29.12.2022
DB legt sich (voreilig) auf eingeschossige Züge fest
Die Fahrgastzahlen im Fernverkehr der Deutschen Bahn wachsen seit Ostern wieder deutlich. Im Oktober wurden 12,8 Millionen Personen befördert und damit kaum weniger als im letzten Oktober vor Corona. Ähnlich war es im November. Zu Weihnachten gab es bereits einen Rekord an Reisenden in den Fernzügen. Schon vor Corona gab es erhebliche Zuwächse und immer neue Beförderungsrekorde.
Wenn wir Klimaziele erreichen und beispielsweise Reisende weg von Kurzstreckenflügen und rein in die Züge bekommen wollen, wird ein erheblicher Fahrgastgewinn realisiert werden müssen. Da stellt sich die Frage: Bleiben die ICE eingeschossig oder wagt man sich an doppelstöckige Züge, die im Regionalverkehr kaum mehr wegzudenken sind? Das Problem: Die Infrastruktur lässt sich kaum schnell genug ausbauen. Längere Bahnsteige für Züge mit mehr Wagen sind aus Platzgründen nicht überall möglich. Ähnlich schwierig ist es mit zusätzlichen Bahnsteigen in den Bahnhöfen. Zudem können auf vielen Strecken schlichtweg nicht mehr Züge fahren, weil die Kapazitäten erschöpft sind. Zusätzliche Triebfahrzeugführer*innen fallen auch nicht vom Himmel. Andererseits: Doppelstockzüge werden meist dem Anspruch an Barrierefreiheit nicht gerecht und weisen, wenn es darin nicht zu eng zugehen soll, eine häufig überschätzte Anzahl zusätzlicher Sitzplätze auf.
Ohne, dass die aus meiner Sicht erforderliche öffentliche Diskussion geführt worden wäre, hat sich die Deutsche Bahn leider bereits entschieden: Sie hat Alstom und Siemens mit der Konzeptentwicklung für den „ICE 5“ beauftragt. In der Beschreibung steht ausdrücklich, dass es sich um ein eingeschossiges Fahrzeug handeln muss.
In meinem Fachbüro wurden die verschiedenen Argumente gesammelt und diskutiert. Einige davon gebe ich hier wieder:
Pro Doppelstock:
- Die Kapazität im Schienennetz und in den Bahnhöfen lässt kaum mehr Züge zu; Kapazitäten lassen sich nicht schnell genug ausbauen
- Es fehlt schon Personal für die heutigen Züge
- Der TGV-Duplex hat 10% mehr Sitzplatzkapazitäten pro Meter Zuglänge als der ICE 4 (13-teilig) bei einem geringeren Gewicht pro angebotenen Sitzplatz
- Die Sitzplatzkapazität ist stark von der Konfiguration des Innenraumes abhängig. Der TGV verfügt anteilig über mehr 1. Klasse-Sitzplätze als der ICE.
- Der TGV-Duplex ist recht alt. Moderne Dosto können wahrscheinlich effizienter sein.
- Effizienz steigt durch geringeres Gewicht pro Sitzplatz
- Weniger längere/zusätzliche Bahnsteige für mehr Reisende erforderlich
Contra Doppelstock:
- Kundensicht: Oberer Stock besitzt wenig Stauraum für Gepäck, Stufen für einige Fahrgäste problematisch (demographische Entwicklung beachten)
- Vollständige Barrierefreiheit nicht umsetzbar. Bei deutschen Bahnsteighöhen (760 mm) ist auch ein echter barrierefreier (höhengleicher) Einstieg in einem Dosto-Fahrzeug kaum umsetzbar (siehe Alstom-Interview: Zwar ist der Einstieg in den Zug ohne Lift möglich, nicht jedoch das Gelangen in die Sitzbereiche – hier braucht es weiterhin einen Lift). Barrierefrei und höhengleich sind z. T. unterschiedlich definiert – Verbände für Menschen mit Behinderung drängen zunehmend auf Höhengleichheit.
- Betriebliche Sicht: Fahrgastwechselzeiten werden zu lang, Evakuierungszeit ebenfalls
- Hohe betriebliche Kosten, da die gesamte Infrastruktur von DB Fernverkehr auf einstöckige ICEs ausgelegt ist. Dies betrifft insbesondere auch die Instandhaltung + Reinigung.
Ich hätte mir eine offene Ausschreibung mit klaren Vorgaben insbesondere an die Barrierefreiheit gewünscht. Dann hätten wir gesehen, wie innovativ die Bahnindustrie ist und was sie (an technischen Lösungen) anbietet.
Ich verweise auf dieses Interview hier, das ich mit Alstom für meine Homepage geführt habe: https://eur01.safelinks.protection.outlook.com/?url=https%3A%2F%2Fwww.matthias-gastel.de%2Fice-der-naechsten-generation-erstmals-ein-doppelstockzug%2F&data=05%7C01%7Cphilipp.vetter%40welt.de%7Ce5d2a10a55ad4f1cb92808da8b37dbdd%7Ca1e7a36c6a4847689d653f679c0f3b12%7C0%7C0%7C637975369271736020%7CUnknown%7CTWFpbGZsb3d8eyJWIjoiMC4wLjAwMDAiLCJQIjoiV2luMzIiLCJBTiI6Ik1haWwiLCJXVCI6Mn0%3D%7C3000%7C%7C%7C&sdata=CTgZa7oJ6VerzH93CBU3vTcwtf5RVhjMD8EAbX%2FQIhU%3D&reserved=0
Darin ging es auch um die Barrierefreiheit.
Zuvor hatte ich mit Siemens ein Interview geführt und dabei auch über den ICE 5 gesprochen. Siemens plädiert, wie erwartet, für eingeschossige Züge: https://www.matthias-gastel.de/die-neue-ice-generation/
So habe ich meine Position gegenüber der Presse formuliert:
„Die Deutsche Bahn ist aus meiner Sicht gut beraten, wenn Sie sich die Entscheidung offen lässt, ob auch der ICE 5 einstöckig bleiben oder aber als Doppelstockzug ins Rennen geschickt wird. Wichtig ist, dass klare Vorgaben beispielsweise an die Barrierefreiheit und das Platzangebot für die Fahrgäste und deren Gepäck definiert werden. Dann sehen wir, wie innovativ die Bahnindustrie darauf reagiert und welche Lösungen sie anbietet. Denn wir brauchen dringend deutlich mehr Kapazitäten für den notwendigen Umstieg von Auto und Flugzeug auf die klimafreundlichere Bahn. Dafür müssen wir die Infrastruktur ausbauen. Die meisten Ausbaumaßnahmen benötigen aber 15, 20 und mehr Jahre. Die ersten Fahrzeuge des neuen ICE sollen hingegen in neun Jahren ausgeliefert werden. Doppelstockzüge schonen dank einer höheren Sitzplatzanzahl die knappen Strecken- und Bahnhofskapazitäten. Ihr Einsatz könnte sich beispielsweise als Sprinter auf besonders nachfragestarken Strecken anbieten.“