ETCS und der Digitale Knoten Stuttgart (DKS): Es gibt wohl kaum mehr Begriffe, die derzeit neben der verspäteten Inbetriebnahme im Zusammenhang mit Stuttgart 21 häufiger genannt werden. Doch nicht nur der Stuttgart-21-Kernbereich soll mit ETCS ausgestattet werden, auch die Stuttgarter S‑Bahn-Stammstrecke und in einem weiteren Schritt das gesamte Stuttgarter S‑Bahn-Netz, also auch die S‑Bahn-Strecke nach Filderstadt, kommt in den Genuss der neuen und kapazitätssteigernden Leit- und Sicherungstechnik. Der Strecke nach Filderstadt kommt hierbei eine besondere Rolle zu. Dazu später mehr.
Doch wie funktioniert der DKS eigentlich genau? Um die Funktionsweise zu verstehen, muss man sich etwas vertiefter mit der Materie der Leit- und Sicherungstechnik bei der Bahn befassen.
Grundsätzlich wird fast jede Zugfahrt in Deutschland technisch überwacht, beispielsweise in Bezug auf die Einhaltung von Höchstgeschwindigkeiten oder das Halten vor roten Signalen. Neben der sogenannten Linienzugbeeinflussung (LZB) für Fahrten mit hohen Geschwindigkeiten kommt hierfür in Deutschland hauptsächlich die Punktförmige Zugbeeinflussung (PZB) zum Einsatz, die an bestimmten Stellen wie beispielsweise an einem „Langsamfahrt erwarten“ anzeigendes Vorsignal eine Überwachung des Bremsvorgangs bzw. der dann zu fahrenden Geschwindigkeit des Zuges auslöst. Während die Informationsübertragung bei der PZB nur punktförmig, also nur an bestimmten Punkten wie beispielsweise an einem Vorsignal, erfolgt, sind Fahrzeug und Strecke bei der LZB in ständigem Austausch. Auch die Anzeige von Signalen bzw. Fahrterlaubnissen auf Bildschirmen im Führerstand (sog. „Führerraumsignalisierung“) oder automatisches Fahren ist bereits unter LZB möglich.
ETCS übernimmt nun in den Varianten ohne ortsfeste Signale diese Funktionen der LZB, ermöglicht die Verwendung dieser und vieler weiterer zusätzlicher neuer Funktionen, aber auf einem wesentlich höheren technischen Niveau. Grundsätzlich kann ETCS aber auch mit ortsfesten Signalen betrieben werden. Die Kommunikation zwischen Fahrzeug und der Infrastruktur erfolgt im Wesentlichen über den Bahnfunk (GSM‑R) und über im Gleis installierte sog. „Eurobalisen“, die als kleine Transponder Informationen aussenden, die vom darüber fahrenden Zug erfasst und anschließend verarbeitet werden. Durch die vor allem für den Betrieb ohne Signale relevante Führerraumsignalisierung bzw. die über längere Streckenabschnitte ersteilten Fahrterlaubnisse für einen Zug ist zudem ein wesentlich vorausschauenderes Fahren möglich als unter konventioneller Signalisierung, bei der der vorausschauende Blick lediglich bis zum nächsten Hauptsignal reicht, dessen Signalbild durch die Vorsignalisierung angezeigt wird.
Insbesondere in den Fällen, in denen ETCS mit bestehenden Lichtsignalen betrieben wird, ergeben sich keine erwähnenswerten Kapazitätsvorteile. Hier übernimmt ETCS im Wesentlichen lediglich die Funktion eines Zugsicherungssystem, das das Einhalten der Signale überwacht. Auch im ETCS-Betrieb ohne Signale und ohne weitere Anpassungen können sich die Kapazitätsvorteile bisher beispielsweise durch flachere Bremskurven (der Zug muss dadurch z.B. vor einem „roten“ Signal früher mit Bremsen beginnen) sehr in Grenzen halten.
Gerade für leidgeplagte Bahnfahrgäste in Deutschland ergibt sich jedoch mit ETCS ein deutlich spürbarer Vorteil – das System ist deutlich zuverlässiger als die bestehende Alttechnik. Die rechnerisch nachzuweisende Zuverlässigkeit von weit über 99 Prozent bestätigt sich auch im praktischen Betrieb, beispielsweise auf der Schnellfahrstrecke zwischen Wendlingen und Ulm.
Allerdings wurden die Potentiale und Möglichkeiten, die ETCS besonders ohne ortsfeste Signale bietet, oftmals bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Anders beim Digitalen Knoten Stuttgart: Aufgrund der insbesondere für die S‑Bahn-Stammstrecke und im Tiefbahnhof notwendigen Streckenkapazitäten wurde hier die ETCS-Planung optimiert und die Streckenkapazität durch digitale Stellwerke und weitere, auf ETCS aufbauende Systeme, weiter optimiert. So wurden die technischen Möglichkeiten, die ETCS bietet, im Gegensatz zu bisherigen ETCS-Projekten in Deutschland, bestmöglich ausgereizt: So wurden Blockabschnitte wesentlich kürzer gestaltet als unter konventioneller Signalisierung, verbunden mit wesentlich kürzeren sogenannten Durchrutschwegen, die im Anschluss an jeden Blockabschnitt frei zu halten sind. Die kürzesten Blöcke auf der S‑Bahn-Stammstrecke, in Stationsbereichen nur ca. 30 bis 75 Meter lang, ermöglichen ein deutlich schnelleres Nachrücken nachfolgender Züge und damit bereit etwa 20 Prozent mehr Streckenkapazität. Zum Vergleich: Momentan sind die Blockabschnitte meist mehrere hundert Meter lang. Übrigens ist auch das Prinzip dieser „Hochleistungsblöcke“ nicht komplett neu – auf der Münchner S‑Bahn-Stammstrecke wurde dies bereits unter LZB umgesetzt.
Allein die Effekte des reinen ETCS mit optimierter Blockeinteilung reichen aus, um den momentan verspätungsanfälligen Betrieb auf der S‑Bahn-Stammstrecke deutlich zu stabilisieren. So wirken sich beispielsweise längere Aufenthaltszeiten eines Zuges in einer Station aufgrund des Ausfahrens von Schiebetritten oder längerem Fahrgastwechsel nicht mehr direkt auf den folgenden Zug aus. Denn unter ETCS kann ein folgender Zug schneller nachrücken, während der vorausfahrende Zug die Station verlässt. Somit ist dieser folgende Zug noch pünktlich in der Station, obwohl der vorausfahrende Zug verspätet ist.
Doch damit noch nicht genug. Weitere wertvolle Sekunden können durch verkürzte Systemlaufzeiten, gemeint ist hier die Zeit, wenn ein Zug einen Blockabschnitt verlässt bis zum Erteilen einer neuen Fahrterlaubnis für diesen Abschnitt, eingespart werden. Hier machen sich auch die Digitalen Stellwerke des DKS in Kombination mit einer optimierten ETCS-Infrastruktur bemerkbar, wenn dadurch jeweils etwa 5 bis 10 Sekunden eingespart werden können. Weitere eingesparte Sekunden bringt eine schnellere Verarbeitung der ETCS-Funksignale im Fahrzeug selbst sowie ein neuer, ab 2027 im DKS eingesetzter 5G-basierter Bahnfunk, über den das Fahrzeug deutlich schneller mit der streckenseitigen ETCS-Infrastruktur kommunizieren kann. Außerdem nutzt der DKS das deutlich bessere Bremsvermögen moderner Fahrzeuge. Dank fahrzeugseitig angepasster und nun deutlich steiler verlaufender Bremskurven können die Fahrzeuge vor einem Halt oder Geschwindigkeitsreduzierung deutlich länger schneller fahren und dann stärker bremsen. Dies macht sich auch in Kombination mit automatisiertem Fahren bemerkbar – damit kann so effizient wie möglich und bei Bedarf, beispielsweise im Verspätungsfall, schnellstmöglich nahe an den zulässigen Höchstgeschwindigkeiten gefahren werden. Grundsätzlich gilt: Nur so schnell fahren wie für den Fahrplan nötig, um möglichst energiesparend unterwegs zu sein. Unterstützt werden soll der Betrieb zudem durch ein Kapazitäts- und Verkehrsmanagementsystem, das den laufenden Verkehr möglichst vorausschauend optimiert und beispielsweise auf die S‑Bahn-Stammstrecke zulaufende S‑Bahnen wie auf einer Perlenkette auf die Stammstrecke „einfädelt“ und sonst entstehende Wartezeiten verhindert. In Kombination lassen sich durch ETCS und alle diese zusätzlichen, auf ETCS aufbauenden Technologien, die teilweise auch zusätzliche streckenseitige und fahrzeugseitige Hardware benötigen, ca. 35 Prozent mehr Streckenkapazität im Vergleich zum aktuellen Zustand erreichen. Dieser Wert mag sich nach nicht viel anhören, macht aber auf einer dicht befahrenen Strecke viel aus und ermöglicht eine deutlich höhere Betriebsqualität sowie perspektivisch zusätzliche Züge auf der S‑Bahn-Stammstrecke. Dies geschieht übrigens mit einem überschaubaren Kostenmehraufwand – die zusätzlichen, auf ETCS aufbauenden Systeme machen lediglich etwa 10 Prozent der infrastrukturseitigen Gesamtkosten des DKS aus. Es zeigt sich aber auch: Nur wenn das Gesamtsystem aus Infrastruktur, Fahrzeugen und Betrieb optimiert und aufeinander abgestimmt wird, maximieren sich die Kapazitätsvorteile.
ETCS und die darauf aufbauenden Systeme haben also viele Vorteile. Doch bis zur endgültigen Inbetriebnahme im Zuge der Betriebsaufnahme von S21 ist es noch ein weiter Weg. Schritt für Schritt wird der DKS in Betrieb genommen, die Systeme getestet und erprobt und der erste Vorlaufbetrieb gestartet.
Parallel dazu läuft auch die Fahrzeugausrüstung in großem Umfang an. Hierbei wurden in den vergangenen Jahren zunächst von jedem Fahrzeug Prototypen, sogenannte „First of Class“-Fahrzeuge, umgerüstet und für Probefahrten verwendet, um die ETCS-Umrüstung zu testen und die Zulassung zu erhalten. Und auch bei den Fahrzeugen gilt: Lediglich ca. 10 Prozent der Umrüstungskosten gehen auf das Konto der auf ETCS aufbauenden Technologien und Systeme. Obwohl noch keine ETCS-Zulassungen für die Fahrzeuge vorhanden sind, soll noch im Jahr 2024 in großem Umfang mit der fahrzeugseitigen Umrüstung der Fahrzeuge für den DKS begonnen werden. Die Umrüstung der S‑Bahn-Fahrzeuge erfolgt priorisiert, damit für den ersten „ETCS-Only“-Betrieb im DKS ausreichend Fahrzeuge vorhanden sind.
Denn bereits ab Mai 2026, also mehr als ein halbes Jahr vor der eigentlichen S21-Inbetriebnahme, wird ETCS im Bereich zwischen Stuttgart-Vaihingen und Filderstadt zusammen mit dem neuen digitalen Stellwerk in Stuttgart-Vaihingen in Betrieb genommen. Aufgrund des Mischverkehrs mit der Gäubahn im Bereich Vaihingen wird zwischen den Stationen Österfeld und Oberaichen ETCS mit Signalen verbaut, ab Oberaichen bis Filderstadt wird schließlich ohne ortsfeste Signale gefahren. Damit ist die S‑Bahn-Strecke nach Filderstadt der erste Streckenabschnitt des DKS, auf der ETCS im regulären Fahrgastbetrieb verwendet wird und der in den Genuss der oben beschriebenen Vorteile und Innovationen des DKS kommt. Damit werden infrastrukturseitige Störungen aufgrund unzuverlässig gewordener Alttechnik zwischen Vaihingen und Filderstadt der Vergangenheit angehören, die Strecke noch leistungsfähiger, die Betriebsabwicklung flexibler, der Betrieb wieder zuverlässiger und erste wertvolle praktische Erfahrungen für den Betrieb mit ETCS in einem großen Bahnknoten gewonnen. So sorgen die schnelleren Systemlaufzeiten beispielsweise dafür, dass im Bahnhof Flughafen oder Filderstadt ein Zug schneller in den eingleisigen Flughafentunnel einfahren kann, wenn der Gegenzug den Bahnhof erreicht hat. Auch sind schnellere Einfahrten in den Bahnhof Filderstadt oder kürzere Zugfolgezeiten im Verspätungsfall möglich. Da die S‑Bahn-Strecke zwischen Rohr und Filderstadt allerdings weit weniger dicht befahren ist als die S‑Bahn-Stammstrecke, wird man als normaler Fahrgast bei fahrplanmäßigem Betrieb hier weit weniger von ETCS merken als in der Stammstrecke, wo die Züge in merklich kürzeren Abständen einander folgen können.
Nach der ETCS-Inbetriebnahme nach Filderstadt erfolgen die weiteren ETCS-Inbetriebnahmen im DKS im Sommer 2026 wie am Schnürchen – im Juli im Bereich Untertürkheim (hier mit Doppelausrüstung mit konventioneller PZB und mit Signalen), im September auf der restlichen S‑Bahn-Stammstrecke bis Bad Cannstatt. Mit der S21-Inbetriebnahme im Dezember 2026 gehen schließlich auch die übrigen Strecken des DKS mit ETCS in Betrieb. Damit ist die erste ETCS-Inbetriebnahme nach Filderstadt ein wichtiger Meilenstein für den DKS, wenn hier erstmals im DKS und bei der Stuttgarter S‑Bahn ausschließlich ETCS im Fahrgastbetrieb eingesetzt wird.