Plädoyer für eine konsequente Infrastruktur-Politik
Fragt man deutsche Unternehmen, was aus ihrer Sicht die wichtigsten Aufgaben einer neuen Bundesregierung sind, so landet das Thema „Infrastruktur“ regelmäßig mit großem Abstand vorn. Selbst der stetige Ruf nach Bürokratieabbau wird von der Forderung, in Infrastruktur zu investieren, übertönt.
Mit Verkehrsinfrastruktur lässt sich Gutes erreichen, denn Mobilität ist ein grundlegendes menschliches Bedürfnis. Es lässt sich mit Infrastruktur aber auch viel Geld verbrennen, wenn unklar ist, welche Ziele Infrastruktur erreichen soll. Die Ziellosigkeit der deutschen Verkehrspolitik in den letzten Jahren macht sich bemerkbar, dass man hierzulande viel Beton in die Landschaft gießt ohne zu wissen, welche Infrastrukturen wirklich gebraucht werden.
So ist es kaum verwunderlich, dass seit Mitte der 1990er Jahre das deutsche Autobahnnetz um fast 1.900 Kilometer wuchs, während in der gleichen Zeit das Fernverkehrsnetz der Deutschen Bahn um 3.700 Kilometer schrumpfte. Für zahlreiche Großstädte wie Potsdam, Heilbronn, Chemnitz, Krefeld, Siegen oder Trier ging der Fernverkehrsanschluss gänzlich verloren. Insgesamt verschwanden rund 220 Städte von der Fernverkehrslandkarte der Bahn. Vollkommen widersprüchlich wird das jahrelange Schrumpfen des Bahnfernverkehrs, wenn die Bahn jedes Jahr neue Fahrgastrekorde meldet. Nicht nur der Frankfurter Hauptbahnhof gleicht seit Jahren einem Nadelöhr, während anderswo in nahezu menschenleeren Regionen die Autobahnen wie Pilze aus dem Boden schießen. Mit sicherem Instinkt für politische Landschaftspflege entstand so die Ostseeautobahn A20, die östlich von Rostock über fast 250 Kilometer keiner einzigen Großstadt dient. Die Autos, die man täglich dort zählt, werden locker von jeder Bundesstraße einer mittelgroßen deutschen Stadt geschlagen. Trotz der zunehmend wachsenden Erkenntnis, dass ein Autobahnanschluss keinesfalls ein Garant für eine wirtschaftliche Blüte von derzeit strukturschwächeren Regionen ist, läuft die Straßenbaumaschinerie unvermindert weiter: Nun soll die Altmark im Norden Sachsen-Anhalts, eine der am dünnsten besiedelten Regionen Deutschlands, mit dem Weiterbau der A38 Richtung Schwerin eine eigene Autobahn bekommen, obwohl auch eine Bundesstraße den Verkehr vor Ort ohne Probleme bewältigen könnte.
Zugleich verstärken milliardenschwere Bahnprojekte wie Stuttgart 21, die sich kaum mehr als für publikumswirksame Baustellenevents eignen, die Verkehrsprobleme in den Ballungsräumen. Anstatt mehr Regionen an den Fernverkehr anzubinden und das Bahnnetz in der Fläche zu stärken, wird man einst ernüchtert außer einigen Minuten Zeitgewinn zwischen den Metropolen Stuttgart und München nicht viel spüren. Der Streit um die Zahl der Fernverkehrszüge am künftigen Stuttgarter Flughafenbahnhof zeigt sehr anschaulich, wie noch immer Infrastrukturplanung und Betrieb in Deutschland auseinanderfallen. Zwar will man nun zwei aufwendige Tunnelbahnhöfe am Stuttgarter Flughafen für die Zeit ab 2025 errichten. Wie viele Züge dort einst halten werden, steht aber noch immer in der Sternen.
Auch die Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Berlin und München ist ein Paradebeispiel politisch motivierter Planung: Weil der damalige Thüringer Ministerpräsident Vogel energischer war und über den besseren Zugang zu Bundeskanzler Kohl verfügte als sein sächsischer Kollege Biedenkopf, wurde die Trassierung so gewählt wie unlängst in Betrieb genommen. Ausschlaggebend waren weder die Kosten noch der Flächenverbrauch der alternativen Varianten und auch nicht, welche Taktfahrpläne sich darauf fahren, welche Anschlüsse sich damit organisieren und wie viele Fahrgäste sich hinzugewinnen ließen. Die Folge ist, dass wirtschaftsstarke Städte wie Jena vom Fernverkehr abgehängt wurden. Die zehn Milliarden Euro teure Strecke wurde bislang von keinem einzigen Güterzug befahren und wird auch in den nächsten Jahren absehbar nicht ausgelastet sein.
Jenseits der fachpolitischen Frage, welche Investitionen tatsächlich notwendig sind und welche einem politischen Größenwahn geschuldet sind, bekommt das Wachstum des Straßenverkehrsnetzes bei gleichzeitigem Schrumpfen der öffentlichen Fernverkehrsangebote auf die wenigen Hauptachsen zwischen den Metropolen eine gesellschaftliche Dimension: Vorhandene Infrastrukturen und Angebote prägen das eigene Bewusstsein und letztendlich das Bild, das wir Menschen von unserem Land haben. Die Spaltung des Landes in prosperierende Metropolen und abgehängter Peripherie setzt sich weiter fort, mehr Menschen ziehen in die Großstädte, die Verkehrsprobleme verschärfen sich. Gerade in den Stoßzeiten sind die Straßen der Großstädte mit Autos verstopft, die kaum mit mehr als einer Person ausgelastet sind. Zeitgleich quetschen sich viele Menschen in überfüllte Busse und Bahnen. Im Straßennetz ist unvorstellbar, was für die Fahrgäste der Bahn auf unzähligen einspurigen Strecken zum Alltag gehört, so auf der Bodenseegürtelbahn: Der Zug muss mitsamt seiner Mitreisenden mehrfach bis zu sechs Minuten auf den Gegenzug warten, weil die Infrastruktur unzureichend ausgebaut ist. Einen Ausbau hat die große Koalition jedoch abgelehnt. Eingleisige Bahn-Davids können aber unmöglich im Wettbewerb gegen vierspurige Autobahn-Goliaths mithalten.
Dass sich der Staat aus seiner Aufgabe, in der Fläche guten Bahnverkehr zu organisieren, immer weiter zurückzieht, ganze Regionen abgehängt werden, während zeitgleich neue Autobahnschneisen durch fast unberührte Landschaften gezogen werden, ist nicht nur eine Frage von Prioritäten, sie sind auch ein Beleg politischer Ideenlosigkeit. Hätte der letzte Ressortminister Dobrindt sein Ministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur richtig verstanden, so wäre mit digitaler Technologie auf unseren Verkehrsnetzen der Neubau von Autobahnen verzichtbar, während die Bahn einen Quantensprung hinlegen könnte. Nach Einschätzungen von Fachleuten sind mit der digitalen Bahn rund 20 Prozent mehr Kapazität möglich. So ließen sich die Bahnnetze unserer Großstädte besser nutzen und Investitionen auf den Ausbau der wirklich entscheidenden Infrastrukturlücken konzentrieren. Wenn intelligente Technologie das bloße Vergießen von Beton als Leitdisziplin in der Verkehrspolitik ablöst, haben es dann auch die vielen Bahnstrecken, die seit Jahren und Jahrzehnten den Dornröschenschlaf dahindämmern, auch wieder eine Chance zum Leben erweckt zu werden. Gleichermaßen braucht es auch eine entscheidende Neuaufstellung der Investitionsschwerpunkte im Verkehrshaushalt. Eine deutliche Aufstockung der Mittel für Erhalt, Elektrifizierung und Ausbau von eingleisigen Bahnstrecken, daran muss sich eine neue Große Koalition messen lassen. Wir Grüne haben mit dem Konzept „Zukunftsprogramm Nahverkehr“ mit einer Milliarde jährlich einen finanziell untersetzten Vorschlag entwickelt, der den Fehler der Großen Koalition von 2016, die Mittel für diese kleineren, aber in der Summe für das Netz wichtigeren Projekte auf Jahre einzufrieren, endlich korrigieren würde. Die Frage, ob ganze Regionen vom Bahnfernverkehr abgehängt werden, würde sich nach Elektrifizierung zahlreicher Strecken nicht mehr stellen. Der ländliche Raum stünde nicht mehr als Synonym als Abgehängtsein.
Die Zeiten, in der viel gutes Geld nach dem Gießkannenprinzip über das Land geworfen wird, damit Verkehrsminister unbesiedelte Landstriche zu beleuchteten Ackerflächen mit Autobahnanschluss umpflügen, während der Bahnverkehr jenseits der Metropolen ein trauriges Schattendasein fristet, haben in Zeiten der Digitalisierung endgültig ihre Daseinsberechtigung verloren. Trotz digitaler Technologien setzt das großkoalitionäre Deutschland noch immer auf die alte wie längst überholte Idee des immer mehr Beton.
Es wird Zeit, dass die Große Koalition einen Verkehrs- und Digitalminister – oder auch mal eine Verkehrs- und Digitalministerin – ernennt, bei dem oder der mehr zu erwarten ist als das „immer mehr vom immer Gleichen“. Eine Person, die hinterfragt, wie die Pendler nicht alle zum gleichen Zeitpunkt in die Bahnen strömen, die Autobahnen tagein, tagaus auf den immergleichen Abschnitten verstopfen.
Die vielen Menschen, die früh morgens und nachmittags dicht gedrängt im Stau und in den Bahnen stehen, würden es danken.
Eine Kurzfassung dieses Beitrags ist als Gastbeitrag in der Frankfurter Rundschau erschienen.