08.02.2019
„Bahngipfel“ für Metropolregion Stuttgart
Die verkehrspolitischen Herausforderungen sind groß. Denn es geht um viel: Um saubere Luft, weniger Lärm, die Sicherung der Mobilität aller Menschen, um die Klimaziele. Wie können wir das in der Region Stuttgart schaffen? Darum ging es beim ÖPNV-Forum, zu dem ich Aufgabenträger, Verkehrsunternehmen, Wissenschaftler, politische MandatsträgerInnen aus Land, Region und Kommunen, VerbandsvertreterInnen sowie Bürgerinnen und Bürger nach Stuttgart eingeladen hatte. Rund 70 Gäste waren der Einladung gefolgt, lauschten den Referaten und beteiligten sich an lebhaften Debatten.
Cem Özdemir, Abgeordneter aus Stuttgart und Vorsitzender des Bundestags-Verkehrsausschusses, ging in seiner Begrüßung auf die politische Gemengelage ein, in der sich der Verkehrssektor derzeit befindet. Besonders betonte er, dass sich der Verkehrssektor auf dem Feld der emittierten Treibhausgase, in Zukunft stark wandeln müsse. Von den verhängten Fahrverboten für Stuttgart und dem Verständnis für die Wut und Frustration der Betroffenen schlug er einen Bogen zur Notwendigkeit eines starken Verkehrsträgers Bahn, der das Rückgrat der notwendigen Verkehrswende darstellen muss. Bei allen Problemen bei der (Deutschen) Bahn solle man „den Ärger zuvorderst nicht bei den Bahnunternehmen und schon gar nicht deren Beschäftigten, sondern beim Bund abladen. Er ist Eigentümer der Deutschen Bahn und gestaltet die Rahmenbedingungen. So sind die Wettbewerbsbedingungen unfair gegenüber der Bahn.“ Die Politik habe die Aufgaben, die notwendigen Rahmenbedingungen für eine funktionierende Bahn zu schaffen, wie eine Besteuerung von Kerosin, die Abschaffung der Mehrwertsteuer auf grenzüberschreitende Bahntickets und eine auskömmliche finanzielle Ausstattung des Verkehrsträgers Schiene, um die notwendigen Erhaltungsmaßnahmen und Ausbauten für einen attraktiven Schienenverkehr zu gewährleisten.
Der Beitrag des Verkehrsminister des Landes Baden-Württemberg, Winfried Hermann, war überschrieben mit „Schienenverkehr 2030plus – Entwicklungsperspektive für die Metropolregion aus Sicht des Landes“. Winne Hermann stellte zuerst Zahlen zu energiebedingten Treibhausgasemissionen in Baden-Württemberg vor, wobei der Verkehrssektor mit 30 Prozent den größten Einzelanteil hat. Dies sei die Motivation des Landes für das Programm „Verkehrswende 2030“, zu denen mehrere Maßnahmen gehören, die Teil des Gesamtkonzepts sind. Ein wichtiger Teil davon sei das Ziel der Verdoppelung des öffentlichen Personenverkehrs, was mit einer Vielzahl an Teilprojekten erreicht werden soll. Eine der wichtigsten Maßnahmen für Stuttgart sind die schrittweise neu in Betrieb genommenen Metropolexpresse als schnelle und komfortable Verbindungen aus dem Umland (von Geislingen, Aalen, Heilbronn, Pforzheim und Schwäbisch Hall sowie Tübingen) nach Stuttgart. Auch die Elektrifizierung weiterer Bahnstrecken in Baden-Württemberg waren Teil der Präsentation, wobei mittelfristig alle Strecken mit regelmäßigem Personenverkehr in Baden-Württemberg elektrisch befahren werden sollen – entweder mit einer Oberleitung oder batterieelektrischen Fahrzeugen. Zu Stuttgart 21 sagte Hermann, manche Befürworter könnten bis heute nicht einräumen, dass es dringenden Verbesserungsbedarf für das Projekt gebe. Schließlich gab er noch einen Ausblick in die Zukunft, durch die Beschreibung der Ausstattung des zukünftigen Bahnknotens Stuttgart mit ETCS und ATO, um teilautonomes Fahren und eine Leistungssteigerung, im Rahmen des Programms „Digitale Schiene Deutschland“ mit starker Landesförderung, zu erreichen.
Unter dem Titel „Der Bund in der Pflicht“ kritisierte ich (Matthias Gastel)zunächst die falschen verkehrspolitischen Weichenstellungen der letzten Jahre und Jahrzehnte. Während die Straßen massiv ausgebaut wurden, wurden die Schienenwege zurückgebaut. Auf dem geschrumpften Schienennetz findet heute aber so viel Personen- und Güterverkehr statt wie niemals zuvor. Das kann nicht gutgehen, wie sich am Zustand der Infrastruktur und den Verspätungen zeigt. Wir brauchen ein Bündel an Maßnahmen: Beschränkung des Straßenneubaus auf das zwingend Erforderliche, deutliche Mittelerhöhungen für Sanierung, Ausbau und Digitalisierung des Schienennetzes sowie Programme für Bahnhofssanierung und Streckenreaktivierung. Die Deutsche Bahn muss sich auf ihr Kerngeschäft (Schiene in Deutschland und Nachbarländern) konzentrieren. Der Bund muss außerdem für Wettbewerbsgerechtigkeit zwischen den Verkehrsträgern sorgen, damit die Bahn relevante Verkehrsanteile von Auto, Lkw und Flugzeug gewinnen kann.
Matthias Lieb, Landesvorsitzender des Verkehrsclub Deutschland (VCD), identifizierte vier Engpässe in und rund um Stuttgart. Erstens den zwischen Stuttgart-Zuffenhausen und Hauptbahnhof. Beim Bau der Neubaustrecke (NBS) Mannheim – Stuttgart sei dieser „vergessen“ und nicht ausgebaut worden. Lieb kritisierte, dass der Bund diesen Engpass ignoriere und wegrechne, indem für den Bundesverkehrswegeplan Züge einfach von tagsüber in die Nachtstunden verlagert wurden. Mit einer kurzen NBS inklusive „P‑Option“ (Zuführung von Bad Cannstatt) könne das Geschwindigkeitsniveau der Schnellfahrstrecke von Mannheim bis kurz vor Stuttgart Hauptbahnhof gehalten werden. Durch die Fahrtzeit von dann noch rund 30 Minuten zwischen den beiden Großstädten ergäben sich in Mannheim optimale Knotenzeiten. Allerdings mache ein leistungsfähigerer Zulauf aus dem Norden zusätzliche Gleise am Hauptbahnhof (Erhalt einiger Kopfgleise) erforderlich. Der zweite Engpass stelle der Fildertunnel (Hauptbahnhof – NBS beim Flughafen), der dritte die Filderbahn (Rohrer Kurve – Flughafen) und der vierte die S‑Bahn-Stammstrecke dar. Notwendig sei der Erhalt der Gäubahnstrecke (Panoramabahn) und deren Anbindung an den Hauptbahnhof.
Für den Verband Region Stuttgart (VRS), der Aufgabenträger für die S‑Bahn in der Region Stuttgart und außerdem für bislang drei Expressbuslinien ist, sprach Infrastrukturdirektor Dr. Jürgen Wurmthaler. Er erinnerte an die Leistungen des Verbandes in Sachen Ausbau der ÖPNV-Angebote und konnte mit der Präsentation der aktuellen Zahlen zur S‑Bahn Stuttgart aufzeigen, wie viel die S‑Bahn bereits in der jetzigen Ausbaustufe leistet und zukünftig mit einem ganztägigen 15-Minuten-Takt leisten wird. So werden ab Dezember 2019 die Lücken im 15-Minuten-Takt zwischen 12 und 15 Uhr und ein Jahr später am frühen Morgen und am Abend bis 20.30 Uhr geschlossen. Diese Verbesserung, zusammen mit der VVS-Tarifzonenreform (einfacheres Tarifrecht und deutliche Tarifsenkung) und den neuen Wohngebieten rund um die Mittnachtstraße, werden auch weiterhin zur starken Steigerung der Fahrgastzahlen bei der S‑Bahn führen. Inzwischen nutzen täglich 420.000 Fahrgäste pro Tag die S‑Bahn. Das sind 100.000 mehr als noch im Jahr 2005. Er stellte vor, woran der VRS gerade arbeitet. Neben dem letzte Woche beschlossenem Kauf von 56 neuen S‑Bahnen zur Verlängerung von Zügen und damit der Erhöhung der Beförderungskapazität, sind dies unter anderem, aufgrund der Tatsache, dass die bestehenden Systeme bereits nahezu vollständig ausgereizt sind, die Nutzung komplett neuer Technologien. Dazu zählt unter anderem, wie bereits von Landesverkehrsminister Hermann erwähnt, die Ausstattung der S‑Bahn-Strecken mit der neuen Signaltechnik ETCS (Level 2, im Netz zwischen Zuffenhausen, Bad Cannstatt, Goldberg und Filderstadt) und darauf aufbauend die Nutzung von teilautonomem Fahren (ATO). Durch die zusätzlichen Kapazitäten im S‑Bahn-Tunnel kann so auch eine Verlängerung einer oder mehrerer bisher an der Schwabstraße endenden Linien bis nach Vaihingen und weiter nach Böblingen realisiert werden.
Einige „Möglichkeiten zur Verbesserungen der Pünktlichkeit der S‑Bahn“ stellte Prof. Ullrich Martin, Leiter des Instituts für Eisenbahn- und Verkehrswesen an der Uni Stuttgart, vor. Für Verbesserungen in der Zugfolge warb er für die Einführung des europäischen Zugbeeinflussungssystem ETCS („zielführend“, „kann die Leistungsfähigkeit und Pünktlichkeit verbessern“ – „aber: ist kein Allheilmittel“). Um Haltezeiten in den Stationen zu verkürzen, schlug er unter anderem die Einspeicherung des Türöffnungswunsches vor (Türen öffnen dann sofort nach Freigabe) und die Trennung der Ströme ein- und aussteigender Fahrgäste vor (jede zweite Türe steht dann entweder zum Ein- oder Ausstieg zur Verfügung). Schließlich sprach er sich für eine kundenorientierte Bewertung der Pünktlichkeit aus. Die Anzahl pünktlicher und unpünktlicher Züge zu zählen spiegle nicht unbedingt die Auswirkung auf die Fahrgäste wider. Vielmehr müsse Pünktlichkeit stärker an den Besetzungsgraden der Züge (Anzahl der Kunden mit Nutzen) und der erreichten Anschlüsse ausgerichtet werden.
Der neue Chef der Stuttgarter Straßenbahnen (SSB), Thomas Moser, referierte zum Thema „Ausbau von Bus- und Stadtbahnangeboten und Umsetzung des Nahverkehrsentwicklungsplans“. Zunächst hob er hervor, dass in Stuttgart 36 Prozent aller zurückgelegten Kilometer mit Bus und (Stadt)bahn bewältigt werden. Man habe in den letzten Jahren die Stadtbahn (bspw. nach Dürrlewang und zum Neckarpark) ausgebaut, eine Expressbuslinie eingeführt und baue gerade die Stadtplanlinie U6 zum Flughafen aus. Mittelfristig stehe beispielsweise die Verlängerung der U5 nach Hohenheim und der U 13 nach Hausen und Ditzingen an und der Ausbau von Haltestellen, um längere Züge fahren lassen zu können. Auch die Expressbus-Angebote sollen erweitert werden. Dafür wird eine neue Schnellbuslinie von Bonlanden über Plattenhardt und Echterdingen nach Degerloch untersucht, ebenso von Obertürkheim an den Flughafen. Als besondere Herausforderungen nannte Moser die Suche nach qualifizierten Mitarbeitern und die Aufstockung des Fuhrparks.
Hier lassen sich die einzelnen Präsentationen nachlesen:
Prof. Ullrich Martin Uni Stuttgart