Sieben Institutionen in eineinhalb Tagen
Viele denken beim Stichwort „Wien“ sofort an das berühmte 365 Euro-Ticket. Was hat es damit auf sich und was hat sich in Wien sonst noch verkehrlich getan? Dieser Frage bin ich vor Ort nachgegangen.
Eineinhalb Tage war ich in Begleitung von Mitgliedern der „Landesarbeitsgemeinschaft Mobilität“ der Grünen Baden-Württemberg in Wien unterwegs. Wir haben dort sieben Institutionen besucht, die öffentlichen Verkehrsmittel und auch die dort schon länger zugelassenen elektrischen Tretroller getestet.
Unser erster Termin führte uns zu den „Wiener Linien“, die in Wien die U‑Bahn, Straßenbahn und Busse betreiben. Seit den 1990er-Jahren konnte der öffentliche Nahverkehr deutliche Verkehrsanteile gewinnen: Er legte von 29 auf 38 Prozent, bezogen auf die zurückgelegten Wege, zu. Der Anteil des Autoverkehrs sank von 40 auf 29 Prozent. Das Erfolgsrezept: Massiver Ausbau der Angebote im öffentlichen Nahverkehr und gleichzeitige Einführung der Parkraumbewirtschaftung. Wie schätzt das Verkehrsunternehmen den Erfolg des im Mai 2012 eingeführten 365 €-Tickets ein? Wir bekommen den Hinweis, dass der Verkehrsanteil der öffentlichen Verkehrsmittel auch schon vorher verhältnismäßig hoch gewesen ist und sich die Fahrgastzuwächse seither in etwa auf dem Niveau des Bevölkerungswachstums bewegen. Das begehrte Ticket habe zu einem Rückgang der verkauften Wochen-und Monatsfahrkarten geführt, sei auch von Wenigfahrern erworben worden und habe letztlich vor allem dazu geführt, dass Kunden dem öffentlichen Nahverkehr treu geblieben seien (zumal sich das Ticket von selber ständig verlängert, wenn es nicht gekündigt wird). Zahlen belegen, dass der stärkste Fahrgastzuwachs vor Einführung des neuen Jahrestickets zu verzeichnen war. Wien verfügt mit 28 Straßenbahnlinien, die den „Auto-Wahn“ der 1970er-Jahre überstanden haben, 5 U‑Bahn- und 129 Buslinien über ein beneidenswert gut ausgebautes Netz an öffentlichen Verkehrsmitteln. Die meisten Busse fahren mit Diesel, einige wenige sind batterieelektrisch unterwegs und werden an den Endhaltestellen an den Oberleitungen der Straßenbahn geladen. Es ist geplant, mehr E‑Busse anzuschaffen. Zwei U‑Bahn-Linien sollen ausgebaut werden, eine davon soll fahrerlos werden. In der benachbarten U‑Bahn-Leitstelle informierten wir uns über die Organisation der U‑Bahn und schauten den Disponenten über die Schulter. Eine Besonderheit: Jede Linie hat ihre eigene Trasse, die sie maximal im 2,5 Minuten-Takt befährt.
Die verkehrspolitische Tour durch Wien führte uns zur “Radlobby”, dem 2013 gegründeten Dachverband örtlicher Radverkehrsgruppen. Der Radverkehrsanteil in Wien stieg zwar seit den 1990er-Jahren, ist mit gerade einmal sieben Prozent aber noch immer schwach. Die Radlobby fordert höhere Investitionen ins Radverkehrsnetz, eine einheitliche Kennzeichnung der Radrouten und mehr Engagement der Arbeitgeber. Der Verband hat Leitlinien für Radwege entwickelt und empfiehlt darin ausreichend breite, von Gehwegen und Fahrspuren getrennte Radverkehrsanlagen.
Anschließend trafen wir uns mit Vertretern der Verkehrspolizei, um über die Verkehrssicherheit des Radverkehrs und der in Wien weit verbreiteten E‑Tretroller zu sprechen. Die Polizei führt jeden Monat zwei Großkontrollen des Rad- und Rollerverkehrs durch. Am häufigsten treten die Gehwegnutzung und die Missachtung des Rotlichts auf. Die Verleiher der E‑Roller werden von der Polizei als kooperativ beschrieben. Hervorgehoben wird, dass sie die Nutzer ausdrücklich auf die Verkehrsregeln hinweisen. Eine Erhebung der Unfallzahlen unter den Rollerfahrenden gibt es (noch) nicht.
Die Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou (Grüne) ist unter anderem für Stadtentwicklung und Verkehr zuständig. Sie verwies im Gespräch auf die Zuwächse im öffentlichen Nahverkehr, sah aber keinen Grund, sich auf diesen Erfolgen auszuruhen. Den Pendlern aus dem Umland (Bundesland Niederösterreich) Angebote mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu machen, ist aus ihrer Sicht eine zentrale Aufgabe. Doch dort würde nach wie vor auf den Ausbau von Straßen gesetzt. Die Ausweitung der Parkraumbewirtschaftung, die zunächst auf Widerstände gestoßen sei, stoße heute auf Zustimmung und sei ein wesentlicher Erfolgsfaktor für Bus und Bahn. Beim Radverkehrsnetz gelte es, einige Lücken auf relevanten Abschnitten zu schließen. Zu E‑Tretrollern, die sie positiv sieht, stehe im Herbst eine Evaluation der bisherigen Entwicklung an.
An unserem Abendessen nahm mit Prof. Hermann Knoflacher ein renommierter Raum- und Stadtplaner, bekannt durch viele Bücher und bisweilen provokative Thesen, teil. Er sprach sich für weitgehend parkplatz- und autofreie Städte aus. „Das Auto darf die Stadt nie im Griff haben.“
Wie ein roter Faden zog sich das Thema „E‑Tretroller“ durch unsere verkehrspolitischen Gespräche in Wien. Wir sprachen darüber mit „Radlobby“, der Interessenvertretung des Radverkehrs, mit der Verkehrspolizei und mit der Vizebürgermeisterin. Schließlich trafen wir uns mit Vertretern von „Tier“, einem der fünf in Wien aktiven Verleihanbieter. Wir schauten uns deren Werkstatt/Lager an und fuhren anschließend einige Kilometer auf Radwegen, Schutzstreifen und „normalen“ Fahrbahnen durch die Stadt. Die E‑Tretroller sind weitgehend dem Fahrrad gleichgestellt. So müssen sie, wenn vorhanden, auf Radwegen oder Schutzstreifen gefahren werden. Sie dürfen bis zu 25 km/h schnell fahren (in Wien in Absprache mit der Stadt bislang 18 km/h), über eine Leistung von bis zu 600 Watt verfügen und ab 12 Jahren (hiervon gibt es mehrere Ausnahmen) gefahren werden. Wir hörten in den Gesprächen vereinzelt Kritik an der Missachtung von Verkehrsregeln durch die Nutzer/innen und auch vereinzelt Zweifel an der Langlebigkeit der Roller – aber nichts von grundsätzlichen Konflikten oder gar einer Ablehnung dieser neuen Mobilitätsform. Gelobt wurde bspw., dass die Verleiher den Bau von Radabstellbügel mitfinanzieren. Deutlich wurde, wie sinnvoll und notwendig klare Absprachen zwischen Verleihanbietern und Kommunen sind. Die Vertreter von „Tier“, die in Wien seit Oktober 2018 genau 1.500 Leihroller am Start haben, sagten, dass davon noch 99 Prozent im Einsatz seien. Die Haltbarkeit der Roller soll sich mit zukünftigen Modellen durch robustere Bauweisen weiter verbessern.
In einigen Tagen werden E‑Tretroller auch in Deutschland zugelassen. Wir sehen Chancen, dass dadurch Kurzstreckenfahrten mit dem Auto vermieden werden. Wichtig ist, dass Verkehrsräume für den Radverkehr und die Tretroller ausreichend dimensioniert und sicher gestaltet werden.