31.01.2020 (erschienen als Gastbeitrag in Tagesspiegel Background)
Ausgeschlafen ans Ziel: Für ein europäisches Nachtzugnetz!
Der Nachtzug ist seit einiger Zeit wieder in aller Munde und eine Renaissance dieser beliebten Reiseart deutet sich zumindest in Umrissen an. Hinter uns liegt ein jahrzehntelanger Rückzug der Bahnen aus dem Nachtreiseverkehr. Investitionen in den Ausbau von Schnellfahrstrecken haben Tageszüge attraktiver gemacht, während mit den Billigfliegern eine neue Konkurrenz heranwuchs, die nur möglich war, weil der Flugverkehr bis heute mit allerlei Subventionen bedacht wird. Die allenfalls zaghaft eingeführten Innovationen ließen den Nachtzug vielerorts alt aussehen. Zu Unrecht, wie das Beispiel des seit Jahren wachsenden Angebots „Nightjet“ der Österreichischen Bundesbahnen beweist.
Denn die Vorteile des Nachtzuges sind im Vergleich der Verkehrsträger unerreicht und machen aus ihm eine Reiseoption mit Alleinstellungsmerkmalen. Der Nachtzug erlaubt dem Fahrgast eine komfortable Reise zwischen den Stadtzentren, Ankunft am frühen Morgen, volle Nutzbarkeit der Reisezeit und das alles mit einer unschlagbaren Klimabilanz. Bisher unerschlossene Potentiale lassen sich für den Nachtzug über die Nutzung von Hochgeschwindigkeitsstrecken heben, in die in den letzten drei Dekaden vor allem in Mittel- und Westeuropa hohe Investitionen geflossen sind. Die Führung von Nachtzügen über Neubaustrecken erlaubt hohe Geschwindigkeiten, so dass Destinationen bis etwa 2.000 Kilometer in einem für die Reise über Nacht attraktiven Zeitfenster von zwölf Stunden erreicht werden können. Klimaverträgliche Reisen in diesem Radius lassen sich innerhalb Europas faktisch nur auf der Schiene schnell umsetzen. Es gibt auch kein Naturgesetz, wonach der innereuropäische Flugverkehr Jahr für Jahr immer weiter wachsen muss.
Um den Nachtzug zu einer attraktiven Alternative zum innereuropäischen Flugverkehr zu machen, sind weitere Schritte entscheidend:
1. Auf europäischer Ebene muss ein Nachtzugnetz definiert werden, in dem grundsätzlich alle Hauptstädte der EU-Mitgliedstaaten und weitere relevante Großstädte und Ballungsräume eingebunden sind. Das Nachtzugnetz wird schrittweise bis 2030 umgesetzt.
2. Der Nachtzug braucht faire Wettbewerbsbedingungen unter den Verkehrsträgern. In 19 Mitgliedstaaten der Europäischen Union wird auf grenzüberschreitende Bahntickets bereits keine Mehrwertsteuer erhoben; diese Praxis sollte der Leitgedanke für ein europäisches Nachtzugnetz werden.
3. Zu fairen Wettbewerbsbedingungen unter den Verkehrsträgern zählt auch eine angemessene Kerosinbesteuerung. Die Subventionierung von Treibstoffen im europäischen Luftverkehr sollte daher so schnell wie möglich beendet werden.
4. Um den Nachtreiseverkehr auf Schiene aus der Nische zu holen, muss ein Anreiz bei der Schienenmaut gesetzt werden. Für den Nachtzug sollten wie in anderen EU-Staaten vergünstigte Trassenpreise gelten.
5. Der Nachtzug fährt über Staatsgrenzen und Bahnsystemgrenzen hinweg, ohne das Fahrgäste davon Notiz nehmen. Dafür muss das europäische Schienennetz in den kommenden zehn Jahren vollständig mit dem europäischen Zugsicherungssystem ETCS ausgerüstet werden. Deutschland muss als Drehscheibe des europäischen Eisenbahnverkehrs hier vorangehen und dafür jährlich mindestens 2 Milliarden Euro in die ETCS-Ausrüstung des Bahnnetzes investieren, damit ein „einheitlicher europäischer Eisenbahnraum“ bald Realität wird.
6. Die Fahrgäste brauchen nicht nur im Nachtzug ein einfaches und transparentes Tarifsystem für den Bahnverkehr in der Europäischen Union. Die in den letzten Jahren fortschreitende Zersplitterung der europäischen Bahntariflandschaft durch intransparente Preissysteme der Bahnunternehmen muss aufgehalten und umgekehrt werden.
Der „einheitliche europäische Eisenbahnraum“ darf keine Sprechblase oder auf technische Fragen beschränkt bleiben. Europa wird durch attraktive Verbindungen zu annehmbaren Preisen im wahrsten Sinne des Wortes für die Menschen erfahrbar. Der derzeitige Kampf um Nachtzugverbindungen ist sichtbares Zeichen dafür, dass mehr und mehr Menschen Reiseerlebnisse und Klimaschutz verbinden wollen.