05.05.2020
Politikwissenschaftler Vinzenz Huzel im Gespräch
Stell Dir vor, es ist Bürgermeister*innen-Wahl, aber niemand kandidiert. Ganz so schlimm ist es zwar nicht, jedoch gestaltet sich die Suche nach geeigneten Kandidaten – und noch mehr nach Kandidatinnen – zunehmend schwierig. Was hält geeignete Personen von einer Kandidatur ab? Wer ist überhaupt geeignet? Weshalb kandidieren so wenige Frauen? Inwiefern hat sich die Arbeit von Bürgermeister*innen und deren Ansehen in der Öffentlichkeit verändert? Ich sprach mit dem Politikwissenschaftler Dr. Vinzenz Huzel über diese Fragen.
Herr Huzel, an der Arbeit, aber auch dem Ansehen von Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern hat sich in den letzten Jahren vieles verändert. Was sind nach Ihren Erkenntnissen die wesentlichsten Veränderungen?
Huzel: Bürgermeister*innen sind heutzutage weniger als reine Verwaltungsfachleute gefragt, sondern mehr mit der Moderation und Kommunikation von Prozessen befasst. Dadurch wird ihre Arbeit stärker als in den 1980er-Jahren als politische Tätigkeit wahrgenommen. Das hat zur Folge, dass viele Amtsinhaber*innen das Gefühl haben, ihr Ansehen in der Öffentlichkeit habe gelitten.
Anhand zweier Erhebungen mit weitgehend identischen Fragestellungen aus den 1980er Jahren und von 2015 konnten wir die Einstellungen und Ansichten der Bürgermeister*innen in Baden-Württemberg im Abstand von gut 30 Jahren miteinander vergleichen. Während sich damals mehr als 40 Prozent der Amtsinhaber*innen als reine Verwaltungsfachleute verstanden haben, sind dies heute lediglich noch rund 26 Prozent. Deutlich zugenommen hat der Anteil derer, die sich sowohl der Verwaltung als auch der Sphäre der Politiker zugehörig fühlen. In den offenen Antworten gaben die Bürgermeister*innen an, stärker als früher mit Beteiligungsverfahren befasst zu sein. Während in den 1980er Jahren deutlich über 90 Prozent der Bürgermeister*innen der Ansicht waren, ein hohes Ansehen zu genießen, sind dies heute weniger als 70 Prozent.
Die sozialen Medien werden von einigen Bürgermeister*innen aktiv genutzt, um die eigene Arbeit darzustellen und Präsenz zu zeigen. Diese Kommunikation kostet Zeit, kann aber auch eine gute Chance sein, um Leute zu erreichen, die keine Bürgerversammlung besuchen. Das Netz kann aber auch die Hemmschwellen für unsachliche Kommentare bis hin zu Beleidigungen senken. Gibt es Untersuchungen oder anderweitige Einschätzungen, wie die sozialen Medien die Arbeit an kommunalen Verwaltungsspitzen verändert haben?
Huzel: Soziale Medien sind in der Politik Segen und Fluch zugleich. Eine Onlinediskussion, die hart in der Sache ist, kann einer demokratischen Meinungs- und Willensbildung durchaus zuträglich sein. Dafür bieten die sozialen Medien große Chancen. Es können Menschen erreicht werden, die sich sonst nicht beteiligen und Perspektiven eingebracht werden, die sonst nicht berücksichtigt würden. Einige Kommunen haben bereits eigene Beteiligungsportale etabliert über die Bürger*innen zu kommunalen Themen befragt werden können. Als ausgesprochen belastend wird es hingegen von den Bürgermeister*innen empfunden, wenn ein Mindestmaß an Respekt und Achtung fehlt. Es ist aber auch festzustellen, dass der Umgang mit Facebook, Twitter, Instagram und Co. eine Generationenfrage unter den Amtsinhaber*innen ist. Gerade jüngere Bürgermeister*innen, die bereits ihren Wahlkampf mit social media geführt haben, nutzen diese Kanäle auch weiter im Amt.
Umfassende Untersuchungen darüber, wie soziale Medien das Amt verändert haben, sind mir keine bekannt.
Man stellt fest, dass sich nicht bei jeder Wahl Personen zur Wahl stellen, die gleich auf den ersten Blick geeignet erscheinen. Ist der Beruf der/des Bürgermeister*in heute weniger attraktiv als früher?
Huzel: Zunächst ist festzuhalten, dass die Zahl der Kandidierenden für das Bürgermeisteramt nicht, wie oft behauptet wird, stark abgenommen hat. Vielmehr sind die Bewerberzahlen bereits schon geraume Zeit recht niedrig. Gerade einmal 2,3 Kandidaten stehen im Schnitt zur Wahl. Wenn die Amtsinhaber*innen nicht wieder antreten sind es immerhin 3,4 Bewerbungen. Was sich in der Tat aber verändert hat ist das Sozialprofil der Kandidierenden. Diese sind in den letzten Jahren zunehmend älter, haben seltener berufliche Erfahrung in der Kommunalverwaltung und es sind etwas mehr Frauen als früher. Insofern hat sich das frühere Erfolgsprofil, das mit “jung, verwaltungserfahren und männlich” beschrieben wurde, doch merklich verändert.
Das Amt scheint gerade für die jungen Verwaltungsfachleute an Attraktivität verloren zu haben. Aber auch die Amtsinhaber*innen selbst gaben ein, dass sie die Attraktivität des Amtes in Gefahr sehen. Gründe dafür sind abnehmende Gestaltungsspielräume durch zunehmende Aufgaben, schlechtere Berufsperspektiven durch häufigere Abwahlen und ein zu geringes Einkommen gerade in kleineren Kommunen. Gleichzeitig leiden sie unter aggressiver werdenden Anfeindungen, einem hohen Arbeitspensum mit langen Arbeitszeiten sowie dem Gefühl, kaum Privatsphäre zu haben. Hinzu kommt die schwierige Vereinbarkeit von Beruf und Familie, welcher gerade in den jüngeren Generationen wieder ein hoher Stellenwert beigemessen wird. Das abnehmende Interesse junger Verwaltungsleute bietet aber auch Chancen für Menschen aus anderen Berufsfeldern, die eben andere Qualifikationen mitbringen.
Man kann den Eindruck gewinnen, dass heute Bürgermeister*innen häufiger abgewählt werden als früher. Ist das wirklich so? Lässt sich bei den Gründen eine gemeinsame Ursache finden oder zumindest erahnen?
Huzel: Im Betrachtungszeitraum der Studie von 2008 bis 2015 wurden 14% aller Amtsinhaber*innen, die wieder zur Wahl angetreten sind, abgewählt – das ist jeder siebte. Darunter sind auch Fälle wie Freiburg, Böblingen, Kirchheim/Teck, Neckarsulm und Ludwigsburg, die medial in besonderer Weise wahrgenommen und aufgegriffen wurden. Grundsätzlich ist es aus demokratietheoretischer Perspektive positiv zu bewerten, dass es keinen Automatismus zur Wiederwahl gibt. Die Amtsinhaber*innen müssen sich ihrer Bilanz stellen und sich gegen Mitbewerber*inne behaupten – das ist ein Grundprinzip unserer Demokratie. Die Gründe für Abwahlen sind vielfältig und vielschichtig. Meist ist es eine Kombination aus unterschätzten Gegenkandidat*innen, Konflikten im Gemeinderat oder mit einer Bürgerinitiative und dem teils diffusen Bedürfnis der Bürger*innen, nach acht oder 16 Jahren einfach mal jemand anderen im Amt sehen zu wollen.
Bürgermeisterin oder Bürgermeister zu sein ist zweitaufwändig und meist ist die Abgrenzung zwischen Dienst- und Freizeit nicht ganz einfach, vielen jedoch wichtig. Wodurch könnte die Arbeit in einem solchen kommunalen Spitzenamt attraktiver werden?
Huzel: In der Befragung gaben über 60 Prozent die Bürgermeister*innen an, im Schnitt mehr als 60 Stunden pro Woche zu arbeiten. Das ist auf Dauer natürlich enorm. Außerdem gaben sie an, im Ort so gut wie nie privat unterwegs sein zu können. Einige, meist junge Bürgermeister*innen haben daraus die Konsequenz gezogen und wohnen nicht im Amtsort. Damit haben sie etwas Distanz zwischen Privatleben, die Familie und den Beruf gebracht. Das ist meiner Ansicht ausgesprochen funktional, sofern es denn von den Bürger*innen akzeptiert wird. Das ist leider nicht immer der Fall. Oft wird erwartet, dass Bürgermeister*innen im Amtsort zu wohnen haben – warum auch immer…
In Ihrer Dissertation haben Sie festgestellt, dass der Anteil der Bürgermeister*innen ohne Verwaltungserfahrung deutlich gestiegen ist. Lässt sich festmachen, welche Eigenschaften einer Bewerberin oder eines Bewerbers die Aussicht, gewählt zu werden, verbessern?
Huzel: Verwaltungserfahrung ist nach wie vor ein Wettbewerbsvorteil. Wer den Stallgeruch aus dem Rathaus mitbringt, hat auch heute gute Chancen gewählt zu werden. Spannend ist es dann, wenn keine der Bewerber*innen aus der Verwaltung kommt. Aber egal ob mit oder ohne Verwaltungserfahrung: gewählt wird die Person, der man am ehesten zutraut, die Kommune zu führen. Dazu gehört heute mehr denn je Kommunikationstalent, politisches Feingefühl und die Fähigkeit, mit Menschen umzugehen – mit den Bürger*innen, dem Gemeinderat und den Verwaltungsmitarbeiter*innen.
Nach wie vor bewerben sich nur sehr wenige Frauen als Bürgermeisterin. Baden-Württemberg liegt unter dem Bundesanteil. Das ist seltsam, sind doch 70 Prozent derer, die mit Abschluss von einer Verwaltungshochschule abgehen, Frauen. Woran liegt das und wodurch kann diese Tätigkeit gerade auch für Frauen attraktiver werden?
Huzel: Ja, der Frauenanteil im Amt liegt in Baden-Württemberg immer noch unter 10 Prozent. Damit sind wir Schlusslicht im Ländervergleich. Gerade die Absolventinnen der Verwaltungshochschulen wären statistisch gesehen in einer guten Ausgangsposition. Die Wahlquote von Frauen liegt über deren Kandidaturquote, das bedeutet, wenn Frauen antreten, dann haben sie gute Chancen gewählt zu werden. Allerdings sind es gerade einmal 17,2 Prozent aller Wahlen zu denen Frauen überhaupt antreten bzw. unter allen Kandidaturen machen Frauen lediglich 8,1 Prozent aus.
Oft wird als Lösung eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie angemahnt. Das mag zwar ein wichtiger Ansatzpunkt sein, doch ich wundere mich immer weshalb davon nur Frauen profitieren sollen? Letztlich offenbart dies nur ein tradiertes Rollenbild, wonach Frauen per se für die Kinderbetreuung und ‑erziehung zuständig sind. Um der berechtigten Forderung nach gleichberechtigter Teilhabe gerecht zu werden, müssen gesellschaftliche Strukturen verändert und tradierte Erwartungen an Geschlechterrollen überwunden werden. Hilfreich dabei sind weibliche wie männliche Vorbilder, die zeigen, dass es durchaus möglich ist, das Bürgermeisteramt erfolgreich zu führen und ein Familien- und Privatleben zu haben, das in Balance ist. Diese Vorbilder gibt es glücklicherweise und sie werden hoffentlich mehr.
Aber auch Parteien – und gerade die progressiven Parteien – sind hier in der Pflicht: die Sozialisation und Rekrutierung von politischem Personal ist ihre ureigene Aufgabe. Aus einer Reihe von Studien aus der Genderforschung wissen wir, dass Frauen oftmals eine andere Ansprache und eine andere Vorbereitung brauchen, um sich für die Kandidatur um ein politisches Amt zu motivieren. Gerade Parteien können Netzwerke aufbauen, in denen dies möglich ist. Insofern könnte der schrumpfende Rekrutierungspool aus den Verwaltungshochschulen eine Chance für die Parteien sein, mit talentierten Frauen in Bürgermeisterwahlkämpfen an Relevanz in der hiesigen Kommunalpolitik zu gewinnen.
Dr. Vinzenz Huzel kommt aus Ulm, arbeitet für die Friedrich-Ebert-Stiftung und ist Lehrbeauftragter an den Verwaltungshochschulen in Ludwigsburg und Kehl. Er studierte Politikwissenschaft an der Universität Augsburg, Public Management an der HVF Ludwigsburg und promovierte über das Thema “Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in Baden-Württemberg” an der TU Darmstadt. Das Interview führte ich für die kommunalpolitische Vereinigung der Grünen in Baden-Württemberg (GAR), deren Vorstandsmitglied ich seit längerem bin.
Die Studie ist verfügbar unter dem Titel: Huzel, Vinzenz: Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in Baden-Württemberg. Ein Amt im Umbruch, 2019, Nomos Baden-Baden, ISBN 978–3‑8487–6240‑8