11.09.2020
Offener Brief an Minister Scheuer
Sehr geehrter Herr Bundesminister Scheuer,
im vergangenen Jahr kündigten Sie für 2020 mit großen Worten eine zweite Bahnreform an. Dann kam Corona. Und die Pandemie legte deutlicher als jemals zuvor offen, wie dringend grundsätzliche Veränderungen bei der Deutschen Bahn, aber auch im Bahnsektor insgesamt, sind. Mehr Geld für die Deutsche Bahn ist in der Krise notwendig, aber damit werden die strukturellen Probleme des Konzerns und des Eisenbahnsektors nicht gelöst.
Ende November 2019 sprachen Sie während einer Rede im Deutschen Bundestag eine Einladung aus. Sie wollten im neuen Jahr mit allen Beteiligten über Grundsatzfragen der Struktur und Organisation der Deutschen Bahn sprechen – ohne Denkverbote. Trotz Ihres Maut-Debakels: Diese Ankündigung haben wir ernst genommen und unsere konstruktive Mitarbeit angeboten, denn uns geht es um die Sache. Wir wollen, dass der Schienenverkehr in den nächsten Jahren zu einem starken Rückgrat der Verkehrswende wird. Daher haben wir schon im Januar 2020 konkrete Vorschläge für Reformen bei der Deutschen Bahn unterbreitet. Doch seitdem war die angekündigte Reformdiskussion kein Thema mehr für Sie. Bis heute haben Sie keinen einzigen Vorschlag vorgelegt und die Arbeit daran verweigert. Sie haben es bis heute versäumt sich den drängenden Strukturfragen des Bahnsektors und der Deutschen Bahn zu stellen. Dabei ist gerade jetzt der richtige Zeitpunkt, endlich die strukturellen Fragen der Deutschen Bahn mutig zu beantworten und den gesamten Eisenbahnsektor fit für die Zukunft zu machen.
Schon 2019 klaffte beim bundeseigenen Konzern ein mindestens drei Milliarden Euro großes Finanzierungsloch, das nur durch höchst zweifelhafte Hybridanleihen bilanziell geschlossen werden konnte. Weiterhin schiebt der Bund einen Investitionsstau von über 50 Milliarden Euro für eine intakte Schieneninfrastruktur und der DB-Konzern einen Schuldenberg in Höhe von mehr als 27 Milliarden Euro vor sich her. All das ist Ihnen bekannt und trotzdem legen Sie in Zeiten der Klimakrise den Fokus der Investitionen des Bundes auf immer neue Straßen.
Die völlig unzureichende Mittel für den Neu- und Ausbau im Bundeshaushalt der Bundesregierung reichen hinten und vorne nicht aus, um den mittelfristigen Investitionsbedarf für die Schieneninfrastruktur zu decken. Mit der Pandemie droht nun ein nachhaltiger finanzieller Schaden, der das Potenzial hat, das bundeseigene Unternehmen und seine Wettbewerber über Jahre in eine Krise zu stürzen. Bereits in ihren Gewinnprognosen vor der Coronakrise erwartete die Deutsche Bahn ein düsteres Jahr 2020. Inzwischen ist klar, dass die Bahn tief in die roten Zahlen fahren wird. Der Konzernbericht für das Jahr 2019 und die Halbjahresbilanz für 2020 zeigen, dass die Deutsche Bahn nicht über die finanzielle Kraft verfügt, um die Folgen der Corona-Krise zu stemmen. Damit verschärfen sich die Investitionsprobleme der Deutschen Bahn. Das ist Ihre Verantwortung.
Jetzt muss entschlossen gehandelt werden, damit die Bahnunternehmen gut durch diese Krise fahren können und danach als starke Treiber der Verkehrswende den Personen- und Güterverkehr in hoher Qualität vorantreiben können. Auf Sicht fahren, notbedürftig und planlos Geld nachschießen aber gleichzeitig heftige Sparzwänge dem Konzern auflegen – wie Sie, Herr Minister, es tun – ist der falsche Ansatz. Die Bundesregierung darf nicht warten, bis der deutsche Eisenbahnsektor durch die Krise noch stärker ins Straucheln gerät. Ihre PR-Bilder von der Bahn können nicht über den Maut-Skandal ablenken.
Damit die Bahnreform nicht zu einem weiteren hohlen Versprechen von Ihnen wird, fordern wir Sie auf, schleunigst einen Dialogprozess zu skizzieren und auf die Beschäftigten der Bahnunternehmen, die Kundinnen und Kunden, die Wissenschaft und auf das Parlament sowie Branchenverbände zuzugehen. Eine Bahnreform muss sich zudem auch Fragen der Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen im intermodalen Verkehr stellen. Für Alibi-Veranstaltungen stehen wir nicht zur Verfügung. Folgende Fragestellungen müssen zwingend diskutiert werden:
Erstens sollte die Deutsche Bahn im Bereich der Infrastruktur vom Zwang zur Gewinnerzielung und zur Erwirtschaftung von Renditen befreit und auf das Gemeinwohl ausgerichtet werden. Das Ziel, selbst mit der Infrastruktur kurzfristig hohe Renditen zu erwirtschaften hat u.a. dazu geführt, dass Strecken stillgelegt, Anschlussgleise abgekoppelt und Nachtzüge eingestellt wurden. Die Bahnunternehmen müssen im nächsten Jahrzehnt den Reisenden zu fairen Preisen ein attraktives Mobilitätsangebot machen. Sie sollen schließlich bis 2030 die Fahrgastzahlen verdoppeln.
In einem zweiten Schritt muss die Rechtsform bei der Deutschen Bahn AG verändert werden. Die Form der Aktiengesellschaft wurde seinerzeit gewählt, um eine Privatisierung vorzubereiten. Die ist zum Glück vom Tisch, aber die Rechtsform erschwert Regierung und Parlament Kontrolle und Steuerung des Konzerns, obgleich der Bund alleiniger Aktionär der Deutschen Bahn AG ist. Gleichzeitig hat die Bahn über 700 Tochterunternehmen, in denen sie über Beteiligungen unternehmerisch tätig ist. Kontrolle und Steuerung werden so immens erschwert. Die Bundesregierung hat keine Ahnung davon, wie es um Auslandstöchter oder einzelne Konzernsparten bestellt ist. Die Konzernstrukturen müssen dringend gestrafft werden. Denkbar wäre die Umwandlung der Bahn in eine GmbH, um mehr Kontrolle zu ermöglichen.
Zuletzt sollte sich die Bahn auf ihr Kerngeschäft in Deutschland konzentrieren. Allein der Logistikdienstleister Schenker ist in 140 Ländern der Welt mit Lkw und Flugzeugen unterwegs. Arriva, die DB-Tochter für den Regionalverkehr im Ausland, ist in 14 europäischen Ländern aktiv. Diese expansive Ausweitung der Geschäftstätigkeit der Bahn im Ausland macht keinen Zug in und aus Deutschland pünktlicher, sondern bindet finanzielle Mittel und lenkt die Aufmerksamkeit des Bahnmanagements weg von den Kundinnen und Kunden in Deutschland. Die Bahn sollte alle ihre Investitionen vor allem im außereuropäischen Ausland auf den Prüfstand stellen. So kann sie ihre Strukturen vereinfachen und den Blick wieder auf das Wesentliche lenken.
Regierung und demokratische Opposition im Deutschen Bundestag müssen jetzt gemeinsam die Deutsche Bahn und den Bahnsektor durch die Krise führen und durch eine zweite Bahnreform dafür sorgen, dass sie gestärkt aus ihr hervorgehen können. Legen Sie endlich einen Fahrplan für die Bahnreform vor und drücken Sie sich nicht weiter vor Ihrer Verantwortung.
Mit freundlichen Grüßen
Toni Hofreiter, Sven-Christian Kindler, Matthias Gastel