10.02.2021, ergänzt am 11.02.2021
Angebote ausgeweitet – Probleme erörtert
Manchmal kann man den Eindruck haben, dass das einzige, auf das man sich im Zusammenhang mit der Bahnstrecke Stuttgart – Tübingen verlassen kann, das Klagen über unzuverlässig fahrende Züge ist. Das schien manchmal so, als dort die Deutsche Bahn die Regionalzüge fuhr. So scheint es manchmal auch jetzt mit Abellio. Wie ist die Situation tatsächlich? Wie oft kommt es zu Verspätungen und Ausfällen und was sind die Ursachen dafür? Wie lässt sich die Zuverlässigkeit steigern? Darum ging es in einem öffentlichen Videogespräch mit Abellio als Verkehrsunternehmen und Fachleuten für Betrieb und Infrastruktur. Eingeladen hatte ich dazu gemeinsam mit meiner Kollegin Beate Müller-Gemmeke (Reutlingen) und Chris Kühn (Tübingen).
Die aktuelle Situation
Wenige Tage vor unserer Veranstaltung zog das Landesverkehrsministerium eine Zwischenbilanz für den regionalen Bahnverkehr in Baden-Württemberg. Demnach sind die Angebote landesweit – gemessen in Zugkilometern – binnen 10 Jahren um 22,5 Prozent gewachsen (leider wuchs die Infrastruktur kaum mit). Die Betreiberwechsel brachten neben eindeutigen Verbesserungen (Ausweitungen der Angebote, mehr umsteigefreie Verbindungen, vielfach neue Fahrzeuge) auch einige Anlaufschwierigkeiten mit sich. Die Angebote auf der Strecke Tübingen – Stuttgart gelten derzeit noch als die einzigen, auf denen größere Verbesserungen erreicht werden müssen. Das Land spricht von Fahrzeugengpässen und zu vielen Verspätungen. Es werden regelmäßige Gespräche mit Abellio geführt und es sind, so das Land, seit der Betriebsaufnahme Verbesserungen zu verzeichnen. Schwieriger als früher sind die Angebote auch deshalb zu fahren, weil sie in Richtung Heilbronn durchgebunden werden. Die Verbindungen wurden im Vorgriff auf Stuttgart 21 verlängert, da dann in Stuttgart mangels ausreichender Gleiskapazitäten keine Fahrten mehr beginnen und enden können.
Die Pünktlichkeit der von Abellio gefahrenen Züge schwankt nach Unternehmensangaben zwischen 80 und 90 Prozent. Einbrüche gab es nach Ende der Sommerferien 2020 und wenige Wochen später (KW 45) besonders stark, als auf der Strecke Bauarbeiten den Zugverkehr behindert hätten. In den beiden letzten Wochen habe die Pünktlichkeit bei rund 90 Prozent gelegen. Das Land gibt eine 92prozentige Pünktlichkeit vor. Als pünktlich gelten in diesem Sinne Züge, die nicht mehr als 3:59 Minuten verspätet ins Ziel einfahren. Etwa 60 Prozent der Verspätungen hätten externe Ursachen wie Verspätung infolge von Zugfolgen, gefährliche Ereignisse oder Infrastrukturstörungen gehabt. Der Anteil von Ausfällen und Teilausfällen hätte in den vergangenen Wochen bei rund 1,5 Prozent gelegen.
In unserer Veranstaltung nannten die beiden Vertreter von Abellio folgende Gründe für Verspätungen: Man sei seit nunmehr neun Monaten mit Ersatzfahrzeugen unterwegs (diese verfügen über eine nicht ausreichende Beschleunigung, um die anspruchsvollen Fahrpläne fahren zu können). Die verspätet ausgelieferten Neufahrzeuge (noch sind nicht alle ausgeliefert) seien sehr störanfällig. Die Wendezeiten an den Endstationen seien “sportlich”. Erfreulich: Der Personalbestand sei inzwischen ausreichend.
Der Vertreter der Nahverkehrsgesellschaft Baden-Württemberg (NVBW), der mit dem Land den Aufgabenträger vertrat, lobte das Betriebskonzept mit seinen klaren Strukturen und der deutlich erhöhten Zuganzahl. Verschlechtert habe sich die Anbindung Wernaus in den Süden. Zu den Problemen sagte er, dass wegen der Fahrzeuge immer wieder improvisiert werden müsse. Die Zusammenarbeit mit Abellio laufe sehr gut.
Die Streckenbelastung
Die Anzahl der Züge, die zwischen Stuttgart, Nürtingen, Reutlingen und Tübingen unterwegs sind, hat deutlich zugenommen. So verließen 1990/1991 täglich noch 39 Züge des Fern- und Regionalverkehrs den Hauptbahnhof Tübingen in Fahrtrichtung Stuttgart (teilweise bereits in Reutlingen endend). 2000/2001 waren es 56, 2010/2011 waren es 65 und auf 2020/2021 machte deren Zahl gar einen Sprung auf 91! In Summe ist das ein Zuwachs von 39 auf 91 auf dem Abschnitt Tübingen – Reutlingen. Die Zunahmen sind auf massive Angebotsausweitungen des Regionalverkehrs, der vom Land bestellt wird, zurück zu führen. Weitere deutliche Angebotsausweitungen sind vorgesehen. Bis 2025/2026 dürften 113 statt heute 91 Züge von Tübingen in Richtung Reutlingen/Stuttgart fahren. Die genannten Zahlen stellen die Fahrten in eine Richtung dar. Die Infrastruktur ist mit diesen erheblichen Zugsteigerungen leider nicht mitgewachsen.
Die Infrastruktur[1]
Wie bereits erwähnt, wird die Strecke heute von deutlich mehr Zügen befahren als früher und es ist mit weiteren Angebotsausweitungen zugunsten der Fahrgäste zu rechnen. Doch ist die Infrastruktur überhaupt auf diese Zuwächse ausgelegt? Um es vorweg zu nehmen: Es geht heute schon sehr „eng“ her. Die Situation wird sich verschärfen, wenn nicht ausgebaut wird. Ich nenne hier mal einige der Engpässe, wobei sich nahezu alle Punkte kurz- bis mittelfristig umsetzen lassen, wenn der Bund als Eigentümer der Strecke ein Interesse daran hat:
- Auf dem 13,4 Kilometer langen Abschnitt zwischen Tübingen und Reutlingen gibt es keine Überleitstellen. So ist ein Überholen langsamerer oder liegengebliebener Züge nicht möglich. Eine Überleitmöglichkeit etwa auf Höhe Wannweil/Kirchentellinsfurt würde für eine Entspannung sorgen. Leider beabsichtigen Bund/DB keine Überleitstelle. Es bestünde „kein verkehrlicher oder betrieblicher Bedarf“, schrieb die Bundesregierung auf meine Anfrage.
- Auf dem fast 14 Kilometer langen Abschnitt zwischen Metzingen und Nürtingen gibt es nur ein Blocksignal im Bereich des ehemaligen Haltepunkts Neckartailfingen. Dies führt zu langen Belegungszeiten und schränkt dadurch die Kapazität der Strecke ein. Im Falle einer Signalstörung muss im Extremfall bis zu neun Kilometer, nämlich bis zum nächsten Signal, auf mit maximal 40 Stundenkilometer, gefahren werden. Lösung: Einbau von weiteren Blocksignalen zur Verkürzung des Abschnitts. (Absatz korrigiert am 14.05.2021)
- Die maximal fahrbare Streckengeschwindigkeit zwischen Tübingen und Stuttgart wechselt zwischen 110 und 120 Stundenkilometer. Die Trassierung sollte mehr erlauben, wenn die Kurvenüberhöhung angepasst wird, wodurch die Fahrstabilität bei höheren Geschwindigkeiten gesichert wird. Höhere Geschwindigkeiten sollten teilweise für Reisezeitreduzierungen und teilweise für eine höhere Fahrplanstabilität („Verspätungen hereinholen“) genutzt werden. Die eingesetzten Fahrzeuge sind auf Höchstgeschwindigkeiten von bis zu 160 Stundenkilometer ausgelegt.
- Zusätzlich zur für eine Hauptstrecke niedrigen Geschwindigkeit gibt es noch vereinzelte Geschwindigkeitseinbrüche, so bei einer Brücke westlich von Kirchentellinsfurt (110 statt 120 Stundenkilometer). Die Durchfahrgeschwindigkeit am Bahnhof in Metzingen liegt bei 100 und die am Bahnhof in Nürtingen bei 90 Stundenkilometer. Am Bahnhof in Esslingen[2] sind einige Bahnsteiggleise nur mit 60 Stundenkilometer befahrbar. Eine Ertüchtigung dieser Abschnitte für dieselbe Geschwindigkeit wie vor und nach diesen Stellen würden Brems- und Beschleunigungsmanöver vermeiden bzw. es müsste nicht zu früh abgebremst werden.
- Der Bahnhof Plochingen ermöglicht nur langsame Ein- und Ausfahrten von/nach Richtung Tübingen. Diese liegen im Regelfall bei 60, teilweise auch nur bei 40 Stundenkilometer. Dies hat zwei Gründe: Die befahrbaren Weichengeschwindigkeiten im Bahnhof sind nicht allzu hoch und in Fahrtrichtung Stuttgart müssen die Gleise der Filstalbahn gequert werden. Hinzu kommt, dass weiterentwickelte Betriebskonzepte auf der Filstalbahn mit erheblichen Ausweitungen der Zugangebote zu vermehrten Belastungen des Bahnknotens Plochingen geführt haben, der hierfür nicht ausgebaut wurde. Es kann also nicht gleichzeitig ein Zug aus Tübingen kommend ein- und ein Zug in Richtung Ulm ausfahren. In Gegenrichtung (aus Stuttgart kommend) gilt dasselbe, hier blockiert man dann S‑Bahnen Richtung Stuttgart. Kurz- bis mittelfristig sollten schneller befahrbarer Weichen (80 Stundenkilometer) eingebaut werden.[3] Hier ist zu beachten, dass heute Triebzüge mit höherem Beschleunigungsvermögen im Vergleich zu den vorherigen lokbespannten Zügen eingesetzt werden, die von schneller befahrbaren Weichen oder auch ermöglichten höheren Geschwindigkeiten auch auf kürzeren Streckenabschnitten profitieren können.
Für eine längerfristige Umsetzung sollte der Bau mindestens eines Überwerfungsbauwerkes in Plochingen (von Tübingen Fahrtrichtung Stuttgart) zur Entzerrung der Verkehre und Erhöhung der Kapazität untersucht werden. Hilfreich wäre auch, den Knoten Plochingen in den geplanten digitalen Knoten Stuttgart zu integrieren, also den Bereich, in dem die europäische Zugsicherungstechnik ETCS zur Anwendung kommen soll, auszuweiten.
Die Thematik des „Bahnknotens Plochingen“ wird voraussichtlich in einer gesonderten Veranstaltung thematisiert werden.
[1] An diesem Kapitel haben Verkehrsingenieure sowie mit Dominic Ludwig aus Esslingen ein streckenkundiger Lokführer von Abellio mitgewirkt.
[2] So könnte von Gleis 5 heraus in Fahrtrichtung Plochingen eine längere, mit Tempo 80 befahrbare Weiche sinnvoll sein. Dasselbe gilt für Gleis 2 aus Richtung Plochingen kommend.
[3] Einer der Verkehrsingenieure, der an diesem Beitrag mitgewirkt hat, hat hierfür eine Idee entwickelt. Die Gleisbelegung sähe demnach aus wie folgt:
Gleis 1 Bahnsteiggleis Ulm – Stuttgart
Gleis 2 Durchfahrtsgleis Güterverkehr Ulm – Stuttgart
Gleis 3 Bahnsteiggleis Überholung/Zugwende in beide Richtungen
Gleis 4 Bahnsteiggleis Stuttgart – Ulm
Gleis 5 Durchfahrtsgleis Güterverkehr Stuttgart – Ulm
Gleis 6 Bahnsteiggleis Regionalverkehr Tübingen – Stuttgart
Gleis 7 Bahnsteiggleis S‑Bahn Wendlingen – Stuttgart
Gleis 8 Durchfahrtsgleis (betrieblich nicht notwendig)
Gleis 9 Bahnsteiggleis Regionalverkehr Stuttgart – Tübingen
Gleis 10 Bahnsteiggleis S‑Bahn Stuttgart – Wendlingen
Ziel soll sein, dass man von Stuttgart kommend (mit S‑Bahn sowie auch mit der Fernbahn) mit 80 km/h sowohl in den Bahnhofsteil „Filstalbahn“, also die Gleise 1 bis 5, sowie auch in den Bahnhofsteil „Neckar-Alb-Bahn“, also die Gleise 6 bis 10 einfahren kann. Die Ausfahrt sollte mit 80 km/h von beiden Bahnhofsteilen in Richtung Tübingen und mit ebenfalls 80 km/h von beiden Bahnhofsteilen in Richtung Ulm möglich sein. Da sowohl östlich sowie auch westlich die nötigen Überleitstellen für einen Wechsel der beiden Teilbereiche besteht, hat man einige Freiheiten bei der Fahrplanerstellung bzw. bei der Disposition. Einen Zug Stuttgart – Tübingen könnte man somit auf Gleis 4 oder Gleis 6 abfertigen, unabhängig davon, ob dieser aus Stuttgart über die S‑Bahn oder über die Fernbahn ankommt. Durch diese Freiheiten bei der Disposition sollte man auf Überwerfungsbauwerke verzichten können.
Die Geschwindigkeiten und Weichengrößen sind dabei natürlich nur optimale Zielzustände. Ob sich dies realisieren lässt, wurde nicht geprüft. Auch die Einbindung des Güterbahnhofs sowie des S‑Bahn-Werks wurden bisher nicht beachtet.