Fast alle Bahnstrecken fallen durch
In Deutschland sind kaum mehr als 60 Prozent der Schienenstrecken mit einer Oberleitung ausgestattet. Es ist politischer Konsens, dass wir hier weiter kommen müssen. Das Land kommt aber kaum voran. Aus großen Ankündigungen werden kleine Taten.
Im März hat das Bundesverkehrsministerium das Förderprogramm „Elektrische Güterbahn“ veröffentlicht. Es sollten insbesondere Ausweichrouten für den Güterverkehr geschaffen werden. Doch bei näherem Hinsehen fällt schnell auf, dass es sich um ein politisches Schmalspurprogramm handelt. Man kann auch sagen: „Der Berg kreiste und gebar eine Maus“. Nachdem die Bundesregierung mehr als 170 Strecken bzw. Teilstrecken untersucht und mehrfach die Veröffentlichung verschoben hat, ist das Ergebnis eine herbe Enttäuschung. Unter den untersuchten Strecken befand sich auch die Hohenlohebahn von Öhringen nach Schwäbisch Hall-Hessenthal und die Brenzbahn Aalen – Ulm. Die Elektrifizierung beider Strecken hätte nicht nur dem Personenverkehr, sondern vor allem auch dem Schienengüterverkehr genutzt, der dringend Ausweichstrecken benötigt. Wie die meisten anderen Strecken sind beide Strecken bei der Wirtschaftlichkeitsuntersuchung durchgefallen.
Die durch einen Felssturz unterbrochene Strecke im Mittelrheintal zeigt gerade auf eindringliche Weise, welche massiven Störungen Streckensperrungen im Schienennetz verursachen können. Die Sperrung der rechten Rheinstrecke erinnert zudem an die Unterbrechung der Oberrheinstrecke bei Rastatt im Spätsommer 2017. Die Bundesregierung wollte als Lehre aus „Rastatt“ Ausweichstrecken für den Güterverkehr ausbauen. Mehr als drei Jahre später müssen wir feststellen, dass es bei Ankündigungen geblieben ist. Ereignisse wie bei Rastatt können sich jederzeit wiederholen.
Mit dieser Schmalspuragenda für gerade einmal acht Maßnahmen und insgesamt 200 Streckenkilometer wird es der Bundesregierung auch bis 2030 nicht gelingen, 70 Prozent des Streckennetzes unter Fahrdraht zu bringen. Werden alle förderfähigen Streckenelektrifizierungen umgesetzt, dann wächst der Elektrifizierungsgrad des Schienennetzes um magere 0,6 Prozent. Ohnehin wird Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer das selbst gesteckte Ziel, diesen Wert bis 2025 zu erreichen, verfehlen. Denn derzeit sind nur 61 Prozent des Schienennetzes elektrifiziert. Wir müssen feststellen, dass die Anstrengungen der Regierung für weitere Streckenelektrifizierungen völlig unzureichend sind und nicht zu den Zielen passen.
Dass ein Großteil der geprüften Elektrifizierungsvorhaben bei der Wirtschaftlichkeitsuntersuchung durchgefallen sein soll, ist ein plumpes Ablenkungsmanöver des Verkehrsministers. Eine Wirtschaftlichkeitsuntersuchung beispielsweise für Ausweichstrecken durchzuführen, die im Falle von Betriebsstörungen bereitstehen müssen, kann nur scheitern. Wenn wir mehr Redundanz und Verlässlichkeit im Schienennetz haben wollen, dann müssen solche Strecke unabhängig von klassischen Wirtschaftlichkeitserwägungen elektrifiziert werden. Am Ende ist es eine verkehrspolitische Entscheidung, welchen Wert mehr Resilienz im Schienennetz haben soll. Eine Großstörung wie im Spätsommer 2017 auf der Oberrheinstrecke bei Rastatt hat großen wirtschaftlichen Schaden im internationalen Güterverkehr verursacht und muss künftig unbedingt vermieden werden. Wir brauchen für die wichtigen Gütermagistralen daher leistungsfähige und elektrifizierte Ausweichstrecken.