21.04.2021
Heftige Debatten vor schwieriger Entscheidung
Wieder einmal stand die Änderung des Infektionsschutzgesetzes an. Aus unserer Sicht spricht eine stärkere Einheitlichkeit der Grundlagen für beschränkende Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie für die Änderung. Zugleich haben wir auch deutliche Kritik an der Umsetzung. Der Entscheidung vorausgegangen war wieder eine Flut an Mails von Leuten, die – bei teils unterschiedlichen Positionen – die absolute Wahrheit und die „Menschlichkeit“ alleine auf ihrer Seite wähnten.
Kein Grundrecht steht für sich. Vielmehr müssen diese immer wieder aufs Neue miteinander abgewogen werden. In Zeiten der Pandemie geht es um das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit einerseits und die Freiheitsrechte andererseits. In der Gewichtung dieser Rechtsgüter kann man zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, ohne dass dadurch Prinzipien von Demokratie und Rechtsstaat verletzt werden. Leider immer wieder in den Mails von Bürgerinnen und Bürgern vorgebrachte Vergleiche mit dem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte sind absurd und disqualifizieren womöglich berechtigte Argumente gegen die Gesetzesänderung. Ich habe viele hundert Mails zumindest überflogen. Leider waren sachlich gehaltene Mails, die mich zum Nachdenken über die bevorstehende Abstimmung brachten, die Ausnahme (siehe unten). Geschätzt 150 bis 200 der Mails habe ich beantwortet.
Wie eingangs angesprochen, teilen wir grundsätzlich den im Gesetzentwurf vorgeschlagenen Weg, stärkere bundeseinheitliche Vorgaben im Infektionsschutz zu machen. Wir fordern seit Monaten einen Stufenplan mit bundesweit einheitlichen (wissenschaftsbasierten) Maßnahmen, die entsprechend der regionalen Situationen angepasst werden. Der Gesetzentwurf sieht eine solche inzidenzbasierte Differenzierung bei den Maßnahmen vor. Des bedeutet, dass die Menschen in Regionen mit niedrigen Inzidenzwerten nicht den gleichen Beschränkungen unterliegen wie diejenigen, die in Gebieten mit hohen Inzidenzwerten leben und damit einem höheren Infektionsrisiko ausgesetzt sind. Zugleich hatte/hat der Gesetzentwurf erhebliche Schwächen, weshalb wir uns gegenüber dem Kanzleramt und den Regierungsfraktionen für eine deutliche Überarbeitung eingesetzt haben. Teilweise waren wir damit erfolgreich. Teilweise weist der Entwurf jedoch noch immer erhebliche Schwächen auf. Eine dieser Schwächen ist leider noch immer die alleinige Konzentration auf die Inzidenz (PCR-Tests). Diese ist uns zu eng und sollte durch einen Wert ersetzt werden, der aussagekräftiger für das Infektionsgeschehen und dessen Beherrschung ist. Es geht um einen Intensitätswert, der mehrere Indikatoren zusammenzubringt. Dafür könnten die Inzidenz, der Anteil der positiven Tests an der Gesamtzahl der Tests, die 7‑Tagesinzidenz bei über 60-Jährigen sowie die Belegung der Intensivstationen zusammengefasst werden.
Der Föderalismus
In einigen Mails wurde von Bürgerinnen und Bürgern die Befürchtung ausgesprochen, der Föderalismus könne durch die Gesetzesänderung Schaden nehmen. Dem ist aus meiner Sicht nicht so. Es geht um die Zuständigkeit in einer (wenn auch momentan sehr wichtigen) Frage und nicht um den Föderalismus als solchen. Dass Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern immer wieder neu geregelt werden zeigt die Verfassungsänderung in dieser Legislaturperiode, mit der dem Bund eine stärkere Rolle bei Bildungsfragen zugebilligt wurde. Dagegen hatte ich verhältnismäßig wenig Kritik aus der Bevölkerung vernommen. Ich frage mich, ob die Ministerpräsidentenkonferenz (MPK) in ihrer Legitimation und auch von ihren Ergebnissen in der Pandemiebekämpfung her betrachtet besser ist, als wenn der Bundestag entscheidet? Erst wurde die MPK über Monate hinweg wegen ihrer unzureichenden demokratischen Legitimation kritisiert, dann waren die „Alleingänge“ der Länder dran, die zu sehr unterschiedlichen Regelungen führten und jetzt wird die Entscheidung kritisiert, dass der Bund mehr Kompetenzen auf seine Seite ziehen möchte, um für mehr Einheitlichkeit bei den Maßnahmen zu sorgen.
Die Wissenschaft und die Meinungsbildung
Die weit überwiegende Mehrheit der Wissenschaft sieht eine Pandemie und unterstützt die Maßnahmen oder fordert Verschärfungen. Ich spreche mit Ärzten, Virologen und anderen Fachleuten in meinem Wahlkreis bzw. meiner Region und bin bislang noch keinem einzigen begegnet, der nur geringe gesundheitliche Risiken durch das Virus sieht und die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie generell ablehnt. Wir legen als Grüne großen Wert auf Wissenschaftlichkeit. Dies heißt, dass man sich nicht mit einer vorgefertigten Meinung jemanden sucht, die/der die eigene Meinung stützt. Vielmehr stützt man sich auf die weit überwiegende Mehrheit in der Fachwelt. Abgesehen davon: Die Entwicklungen auf den Intensivstationen der Krankenhäuser spricht für sich schon eine sehr klare Sprache.
Um der Öffentlichkeit Informations- und Diskussionsangebote zu unterbreiten und auch für meine persönliche Meinungsbildung habe ich viele Veranstaltungen rund um „Corona“ organisiert. Themen waren die gesundheitliche Risiken durch das Virus, die Wirksamkeit und Sinnhaftigkeit verschiedener Maßnahmen, die Beratung der Politik in Bund und Ländern, soziale Auswirkungen der Beschränkungen, Fragen der Demokratie usw. Siehe Berichte auf meine Homepage: https://www.matthias-gastel.de/zum-thema/gesundheit/
Grundlegende Kritikerinnen und Kritiker der Coronapolitik haben sich leider in keinem einzigen Fall in auch nur eine dieser Veranstaltungen eingebracht.
Meine Begründung für die „Enthaltung“
Eine bundeseinheitliche Regelung halten wir für sinnvoll, um gleiche Maßstäbe für Maßnahmen anhand der jeweiligen lokalen Pandemielage zu setzen. Dazu braucht es eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes. Der von der Regierungskoalition vorgelegte Gesetzentwurf wurde von uns aber sehr kritisch gesehen. Daher hatten wir der Bundesregierung eine ganze Reihe von Forderungen für die Veränderung des Gesetzentwurfs übermittelt. Hier einige Beispiele für unsere Forderungen und Einschätzungen: Zweifel an der Angemessenheit und der Rechtskonformität der Ausgangsbeschränkung, Maßnahmen nicht alleine an den Inzidenzzahlen festmachen und die mangelnde Konsequenz beim Infektionsschutz an den Arbeitsplätzen. Es war schwierig, mit dieser Koalition Gespräche zu führen und einige Verbesserungen in den Gesetzentwurf hineinzubekommen. Wir konnten aber durchaus daran mitwirken, an einigen Stellen Veränderungen zu bewirken, so eine flexiblere Handhabung der Ausgangsbeschränkungen und eine Stärkung von Homeoffice. Noch immer haben wir aber einen Gesetzentwurf vorliegen gehabt, der an manchen Stellen zu kurz springt, um die Infektionskette wirksam zu unterbrechen, und an anderen Stellen auf nicht ausreichend wirksame Maßnahmen setzt, um diese rechtfertigen zu können. Fazit: Wir anerkennen gewisse Verbesserungen am Gesetzestext, halten diesen aber noch nicht für zustimmungswürdig. Daher haben wir uns und habe ich mich enthalten.
Situation im Landkreis – Situation in den Kliniken
Auch bei uns im Landkreis steigt die Inzidenz deutlich an. Im Vergleich mit der Woche vor Ostern (ab 22. März, also binnen drei Wochen) stieg diese am Montag von 115 auf 146 und schließlich (19.04.2021) auf 191, am Dienstag von 117 auf 158 und schließlich 187 (20.04.2021), am Mittwoch von 120 auf 177 und schließlich auf 176 (22.04.2021), am Donnerstag von 125 auf 179 und am Freitag von 130 auf 184. In diesen Vergleichen wurden die Daten aus den beiden Osterwochen wegen der geringen Aussagekraft bewusst ausgespart. Zum Glück ist eine Verlangsamung festzustellen, die auf einen baldigen Höhepunkt hindeuten könnte. Dass wir uns weitere Indikatoren als positive PCR-Tests wünschen, hatte ich ausgeführt. Aber: Auch dieser Wert hat eine Aussagekraft, wie man an den verzögerten Anstiegen der Krankenhausbelegungen erkennen kann. Wichtig zu wissen ist auch, dass Ergebnisse von Schnelltests nicht in Statistiken über die Inzidenzzahlen auftauchen. Hier werden ausschließlich positive PCR-Tests berücksichtigt.
Zur Situation in den Kliniken in der Region um die Osterfeiertage herum hatte ich hier eine umfassende Übersicht gegeben: https://www.matthias-gastel.de/corona-in-der-region-derzeit-beherrschbar/
Seither sind wieder Zunahmen bei den schwer an Covid erkrankten Patient*innen in den Kliniken zu verzeichnen. So ist die Intensivstation der Filderklinik seit dem Wochenende wieder voll belegt. Da die Intensivplätze knapp werden, muss das OP-Programm reduziert werden. Aus dem Landkreis ist ebenfalls zu hören, dass die Intensivkapazitäten knapp werden.
Wichtig ist mir noch folgender Hinweis: Es kann es nicht das Ziel der Gesundheitspolitik sein, möglichst viele kranke Menschen zu pflegen, sondern es muss das Ziel sein, die Übertragung des Virus und damit Ansteckungen bestmöglich zu unterbrechen.
Die Mails
Hier gebe ich einige Auszüge aus Mails wieder, deren Tenort nicht die Ausnahme, sondern leider die Regel waren (!):
„Können Sie wirklich guten Gewissens der Sargnagel der Demokratie in Deutschland sein? Wollen Sie tatsächlich den Föderalismus begraben? Möchten Sie tatsächlich sich als Parlament – und somit Sie sich als Mitglied des Bundestags – entmachten? Glauben Sie daran, daß die deutsche Wählerschaft für diese Schandtat Sie mandatiert hat?“
„Zustimmung zu dieser Gesetzesänderung bedeutet Diktatur in Deutschland! Überlegen Sie am Mittwoch genau was Sie tun!“
„Dieses “Pandemie-Konstrukt” wackelt gewaltig. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann alles zusammenbricht. Und dann wird nur noch eins zählen: Auf welcher Seite standen Sie? Auf der Seite der ”Regierung” oder auf der Seite des “Volkes”? (…) Dass in der BRD inzwischen die Regierung, sowie alle Behörden usw. überhaupt keine Befugnis haben über irgendetwas zu “entscheiden”, spreche ich hier erst gar nicht an.“
„Wenn Sie dieses Gesetz so bestätigen, ist jeder von Ihnen der Totengräber unserer demokratischen Grund- und Menschenrechte. (…) Sie können sich heute einreden, gut zu handeln, wenn sie heute mit Ja stimmen, aber die Geschichte wird Sie richten und hoffentlich auch unser Schöpfer.“
Persönlich an mich: “Was ich über Nazi-Steigbügelhalter wie Sie wirklich denke, werde ich nicht sagen.”
Nicht wenige Mails enthielten offene Drohungen. An einem Großteil der Mails war wieder mal auffällig, dass die eigene Meinung absolut gestellt wurde und kein Verständnis dafür erkennbar war, dass es unterschiedliche Aspekte gibt, die einer sorgfältig getroffenen Entscheidung zugrunde gelegt werden sollten. Da argumentierten Leute gegen eine angeblich drohende „Diktatur“ und verwenden hierfür eine totalitäre Sprache, die nur eine Meinung, nämlich die eigene, die für die Stimme des Volkes gehalten wird, zulässt.
Ich wünsche mir eine Diskussionskultur, die Raum lässt für andere Meinungen. Daher bedanke ich mich bei all denen, die mir ihre Meinung und ihren Appell an mein Abstimmungsverhalten sachlich gehalten haben. Ich habe mich über jede Reaktion auf meine Antworten gefreut, in der auf meine Argumente eingegangen wurde und Verständnis dafür gezeigt wurde, dass es eben auch andere Sichtweisen gibt, die in einer verantwortungsvollen Entscheidung zu berücksichtigen sind.