Verzicht auf Überhang- und Ausgleichsmandate
Der Deutsche Bundestag ist das zweitgrößte Parlament der Welt – nur der Volkskongress in China ist größer. Der Handlungsbedarf ist schon länger ersichtlich, doch frühere Bundesregierungen trauten sich nicht ans Wahlrecht heran. Abgeordnete aus den drei Ampel-Fraktionen haben nun einen gemeinsamen Vorschlag vorgelegt.
Bereits im Koalitionsvertrag war vereinbart worden, dass das Wahlrecht endlich angepackt werden soll. Dort heißt es: „Wir werden innerhalb des ersten Jahres das Wahlrecht überarbeiten, um nachhaltig das Anwachsen des Bundestages zu verhindern. Der Bundestag muss effektiv in Richtung der gesetzlichen Regelgröße verkleinert werden. Eine Verzerrung der Sitzverteilung durch unausgeglichene Überhangmandate lehnen wir ab.“ Im Koalitionsvertrag geht es auch um Parität zwischen Frauen und Männern, die Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf Jahre, die Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre und weitere Ziele. In diesem Beitrag konzentriere ich mich jedoch auf die Verkleinerung des Parlaments, weil hierfür der erwähnte Vorschlag vorliegt.
Die bisherige „personalisierte Verhältniswahl“ hatte bei der letzten Bundestagswahl für einen Bundestag mit 736 statt 598[1] Abgeordneten gesorgt. Dabei führte der große Bundestag nicht nur zu erheblichen Kosten, sondern erschwerte vor allem das Arbeiten in den Ausschüssen und machte die Vergrößerung der Bürokapazitäten notwendig. Die Gründe für die anwachsenden Abgeordnetenzahlen liegen an den Überhang- und Ausgleichsmandaten: Durch die Kombination der Wahl eines Wahlkreiskandidaten (dieser erhält dann ein sog. Direktmandat) durch die Erststimme und die Wahl einer Partei in der Zweitstimme kann es zu einem Sonderfall kommen: Wenn eine Partei mehr Direktmandate gewinnt, als ihr nach dem Anteil der Zweitstimmen zustehen, darf sie diese Mandate behalten. Um das Verhältnis zwischen den Parteien gemäß den Zweitstimmen wiederherzustellen, erhalten die anderen Parteien sogenannte Überhangmandate. Bei der letzten Wahl führten acht gezählte Direktmandate der CSU zu 126 Ausgleichsmandaten.[2] Der beschriebene „Sonderfall“ ist also keineswegs die Ausnahme.
Zunächst einmal sollen die Stimmen umbenannt werden: Die „Erststimme“ wird „Personenstimme“ heißen, da mit ihr ja eine Person aus dem Wahlkreis gewählt wird. Die Zweitstimme wird „Listenstimme“ heißen, da sie über die Sitzverteilung zwischen den Parteien im Bundestag entscheidet. Im zukünftigen Vorschlag ist die Größe des Parlaments auf 598 Abgeordnete gedeckelt und nur noch die Listenstimme entscheidet darüber, wie diese Sitze unter den Parteien verteilt werden. Dabei bleibt die 5%-Hürde erhalten, d.h. Parteien, die weniger als 5% aller Listenstimmen erhalten, werden nach wie vor nicht berücksichtigt.[3] Wenn eine Partei mehr Personenstimmen erhält, als ihr laut den Listenstimmen zustehen, erhalten die Wahlkreisgewinner mit dem geringsten Stimmanteil, also dem schlechtesten Ergebnis, keine Sitze im Bundestag. Das bedeutet, dass ein Direktmandat über die Personenstimme nicht mehr für einen Sitz im Bundestag garantiert. Ein Beispiel: Erhält eine Partei über die Personenstimmen 15 Mandate, aber nur 13 über den Anteil der Listenstimme, so erhalten die beiden Kandidat*innen mit den geringsten Ergebnissen im jeweiligen Land keine Mandate. Damit die Stimmen an die Kandidaten mit den geringsten Stimmanteilen nicht „verloren gehen“ und der Wahlrechtsgrundsatz der Gleichheit nicht verletzt wird, sollen die Wähler*innen eine Art „Ersatzstimme“ erhalten, mit der sie neben der favorisierten Kandidat*in auch eine weitere Person als zweite Präferenz angeben können. Wenn die erstgewählte Person nicht in den Bundestag einzieht, wird die „Ersatzstimme“ gezählt.
Der Vorschlag der Ampel wurde bisher vor allem von der Union stark kritisiert, da man dadurch die Direktmandate zweckentfremde und es nicht sein könne, dass die Gewinner*innen eines Wahlkreises ignoriert würden.[4] Dem ist entgegenzuhalten, dass die Stimmen durch die „Ersatzstimme“ immer noch in das Wahlergebnis einfließen und es durch die zunehmende Zersplitterung des Parteiensystems in den Wahlkreisen bereits während der letzten Wahlen Wahlkreiskandidat*innen gab, die nur mit geringen Anteilen von nur wenig mehr als 20 Prozent und nicht mit einer absoluten Mehrheit von über 50% ein Direktmandat erworben haben. In jedem Fall ist der Vorschlag geeignet, die Größe des Deutschen Bundestages auf seine Sollgröße zu beschränken. Hoffentlich wird die die jahrelange Blockade einer dringend erforderlichen Wahlrechtsreform durch den neuen Vorschlag aufgebrochen.
[1] Die reguläre Mindestanzahl der Sitze liegt bei 598: 299 Abgeordnete werden in den Wahlkreisen direkt gewählt, die gleiche Anzahl zieht über die Landeslisten der Parteien in den Bundestag ein.
[2] Wahlrechtsreform – Wie der Bundestag verkleinert werden soll | deutschlandfunk.de
[3] Ausnahme: Wenn eine Partei mindestens drei Direktmandate erzielt, dann kommt die Fünf-Prozent-Hürde nicht zur Anwendung.
[4] Wahlrecht: Warum die Reform nicht vorankommt | tagesschau.de