28.12.2018
Autorenpapier von Matthias Gastel (MdB), Daniela Wagner (MdB) und Stephan Kühn (MdB), 21.12.18
Maßnahmen für eine Fahrgastoffensive aufgleisen!
Die Bahn ist für die Sicherung der Mobilität und das Erreichen der Klimaziele unverzichtbar. Worauf die Fahrgäste aber gerne verzichten können sind Verspätungen, Zugausfälle und Züge mit defekten Speisewagen und Toiletten. Davon gibt es derzeit leider mehr als von dem, was eine gut organisierte Bahn auf einem leistungsfähigen Netz bieten könnte, nämlich ein hohes Maß an Verlässlichkeit und Service. Pünktlichkeitsquoten von kaum mehr als 70 Prozent im Fernverkehr mit massiven Auswirkungen auch auf den Regionalverkehr und ein Schienennetz, das insbesondere in den Bahnknoten der Metropolen längst am Limit angekommen ist, stellen dem Bahnmanagement und noch viel mehr der Verkehrspolitik der letzten zwei, drei Jahrzehnte ein Armutszeugnis aus. Eine seit der Mehdorn-Ära kaputtgesparte und auf globale Abenteuer ausgerichtete Deutsche Bahn und ein von der Bundespolitik auf Dauerdiät gesetztes, vielerorts kaum mehr vorhandenes Schienennetz wirken sich immer negativer auf die Leistungen der Bahn aus. Die Bundesregierung operiert seit Jahren mit Durchhalteparolen und verlangt von den Managern im DB-Konzern ein Zukunftskonzept nach dem anderen. Fakt ist aber: Seit Jahren nimmt die Qualität ab und die Verschuldung des Konzerns enorm zu. Wenn der Bahnverkehr nicht völlig aus dem Ruder laufen soll, braucht es sofort ein konsequentes Umsteuern in der Verkehrspolitik und eine Neuaufstellung des Bahnverkehrs in Deutschland. Dazu zählt:
- Sofortmaßnahmen für eine verlässlichere Bahn
Dabei sollte man der Öffentlichkeit kein X für ein U vormachen: Deutlich spürbare Verbesserungen brauchen selbst bei entschlossenem Handeln Zeit. Die unzulängliche Infrastruktur lässt sich nur mittel- bis langfristig auf die benötigte Kapazität ausbauen. Was sich kurzfristig anpacken lässt ist die Verfügbarkeit des Fuhrparks. Die Bahnunternehmen, allen voran die Deutsche Bahn, müssen ihre Fahrzeuge besser warten und abseits der Betriebsstunden alle Mängel sorgfältig beheben. Dabei müssen sich die Unternehmen gegenseitig mit freien Werkstattkapazitäten aushelfen und enger mit der Bahnindustrie zusammenarbeiten. Benötigte zusätzliche Züge müssen umgehend bestellt werden. Um die Kapazitäten zu erhöhen, muss in nächster Zukunft vermehrt auf Doppelstockzüge gesetzt werden. Zur kurzfristigen Verstärkung des Fuhrparks muss die DB abgestellte Züge aus der sogenannten Stillstandsreserve aktivieren. Die Fahrzeugreserven in den wichtigen Knoten („Knotenpunktreserven“) müssen auf weitere wichtige Bahnknoten ausgeweitet werden, um bei Betriebsstörungen oder bei stark verspäteten Zügen flexibel reagieren zu können und die Auswirkungen für die Fahrgäste zu minimieren. An besonders nachfragestarken Reisetagen zu Feiertagen oder bei Großveranstaltungen wie Messen muss die DB – wie auch ihre Wettbewerber – wieder verstärkt Entlastungszüge einsetzen, um überfüllte Züge zu vermeiden. Bei künftigen Fahrzeugbeschaffungen ist neben dem üblichen Wachstum des Verkehrsmarkts immer eine feste und ausreichende Fahrzeugreserve einzuplanen und sicherzustellen.
- Mut zur grundlegenden Strukturreform der Deutschen Bahn
Die Deutsche Bahn AG ist mit ihren über 700 Tochterunternehmen und Beteiligungen ein undurchsichtiger, schwerfälliger und kaum führbarer Großkonzern, der sich zudem kaum kontrollieren lässt. Die oft gehörte Forderung nach einer Konzentration auf das Kerngeschäft, also die zuverlässige Beförderung von Fahrgästen und der Transport von Gütern auf der Schiene, kann nur mit einer Neustrukturierung gelingen. Dazu gehört der Verkauf von Unternehmen, die keine Effekte für den Schienenverkehr bringen, insbesondere des Lkw- und Schifflogistikers Schenker. Die Erlöse braucht der Konzern dringend, um neues Wagenmaterial finanzieren zu können. Zu einer Neustrukturierung gehört auch, dass Netz und Bahnhöfe in einer bundeseigenen Infrastrukturgesellschaft zusammengeführt werden. Das Netz ist die Grundlage des Schienenverkehrs. Seine Entwicklung und Instandhaltung darf nicht in der Hand eines Unternehmens liegen, sondern muss – auf Allgemeinwohlinteressen ausgerichtet – von neutraler staatlicher Seite verantwortet werden. Die staatliche Netzgesellschaft kann ohne Gewinnerzielungsabsicht die Infrastruktur instand halten, entsprechend der Bundestagsbeschlüsse Strecken ausbauen und durch eine diskriminierungsfreie Vergabe von Trassen an Verkehrsunternehmen für eine möglichst hohe Auslastung sorgen. Davon profitiert der Bahnsektor insgesamt. Finanzieren soll sich die Gesellschaft durch Nutzungsentgelte und Anteile an den Einnahmen aus der Lkw-Maut, die – anders als es Union und SPD wollen – auf keinen Fall ausschließlich in den Straßenbau fließen dürfen.
- Mittel erhöhen für Ausbau und Deutschland-Takt
Mit dem Deutschland-Takt, zu dem sich inzwischen alle politischen Akteure sowie die Bahnbranche bekennen, wird ein grundlegender Paradigmenwechsel eingeläutet: Es wird nicht mehr, wie bei Stuttgart 21 oder der Neubaustrecke München – Berlin, erst milliardenteure Infrastruktur errichtet, um danach zu schauen, was sich damit (bestenfalls Suboptimales) anfangen lässt. Vielmehr wird jetzt erstmals ein Zielfahrplan entwickelt und danach zielgerichtet der Infrastrukturausbau geplant. Das schafft planbare Verbesserungen der Angebote, sichert die effiziente Verwendung der Investitionsmittel und bringt vielen Millionen Fahrgästen kürzere Reisezeiten. In den Knotenbahnhöfen erreichen Fahrgäste mit kurzen Umsteigezeiten Anschlüsse in alle Richtungen. Viele Großstädte können eine Rückkehr des Fernverkehrs erwarten. Zudem sind zusätzliche Sprinterverbindungen zwischen den Metropolregionen in Deutschland bzw. zu Zielen in unseren europäischen Nachbarländern eine echte Alternative zu den besonders klimabelastenden Kurzstreckenflügen. Das Sprinterangebot sollte mit der Bereitstellung neuer ICE-Züge ausgeweitet und bei der Planung des Deutschland-Takts von Beginn an berücksichtigt werden. Doch leider hat der Bund für die notwendigen Investitionen für die Vorhaben des Deutschland-Takts, z. B. mehrgleisige Streckenabschnitte, leistungsfähigere Bahnknoten, zusätzlich Bahnsteige, noch keinen Cent zur Verfügung gestellt. Seit 1992 wurde das Straßennetz um 40 Prozent ausgebaut, während das Schienennetz massiv zurückgebaut wurde – mit den bekannten negativen Folgen für die deutsche Klimabilanz. Jetzt muss endlich die Schiene an der Reihe sein und aus dem Bundeshaushalt auskömmlich finanziert werden! In einem ersten Schritt müssen die Bundesmittel für den Aus- und Neubau des Schienennetzes von derzeit 1,65 auf 2,5 Milliarden Euro erhöht werden. In den Folgejahren braucht es einen kontinuierlichen und verlässlichen Mittelaufwuchs auf drei Milliarden Euro jährlich.
- Strecken reaktivieren – die Bahn wieder in die Fläche holen
In Deutschland gibt es viele stillgelegte, von Bebauung frei gehaltene und nicht entwidmete Bahnstrecken. In den letzten Jahren wurden einige solcher Bahnstrecken erfolgreich reaktiviert. Ein Beispiel hierfür ist die Schönbuchbahn in Baden-Württemberg, die einst von der Deutschen Bundesbahn aufgegeben und von zwei Landkreisen ein neues Leben eingehaucht bekam. Die Fahrgäste haben dieses neue Angebot so zahlreich angenommen, dass die Strecke ausgebaut werden musste. Das macht Mut, Streckenreaktivierungen gezielter und offensiver anzugehen. Eine Förderung durch den Bund kann so mancher Region wieder Zugang zum Schienenverkehr verschaffen.
- Dem grenzüberschreitenden Verkehr den Weg bahnen
Bahnverkehr wird heute noch zu oft rein national gedacht. Am deutlichsten ist dies daran zu erkennen, dass noch immer nicht alle am Ende des Zweiten Weltkrieges geschlagenen Wunden im Schienennetz, vor allem zu unseren östlichen Partnern, geheilt wurden. Wir Grüne wollen zerstörte Bahnstrecken und ‑brücken wieder aufbauen und damit den grenzüberschreitenden, europäischen Bahnverkehr deutlich stärken. Ein Beispiel dafür ist die Verbindung zwischen Freiburg und Colmar. Aber oft fehlt es im Bahnverkehr zu unseren europäischen Nachbarn nicht an der Infrastruktur, sondern an grenzüberschreitenden Angeboten, wie im Verkehr zwischen Deutschland und Polen.
Auch der Nachtzugverkehr stellt eine Chance für Reisende und für Europa dar. Wir wollen, dass Hochgeschwindigkeitsstrecken in Europa vermehrt vom Nachtreiseverkehr genutzt werden, so dass auch Reisen über 1.500 Kilometer im Nachtsprung zurückgelegt werden können. Ein europäisches Nachzugnetz kann Flugverkehr auf mittleren Distanzen vermeiden und muss daher in erster Linie auf europäischer Ebene vorangetrieben werden.
- Wettbewerb ausbauen, Trassenpreise und Ticketpreise senken
Bahnfahren muss zuverlässig, pünktlich, bequem werden – und bezahlbar sein. Die Erfahrungen aus dem Regionalverkehr in den Ländern zeigen, dass sich mit Wettbewerb mehr Qualität und Effizienz erzielen lassen. Von klug gemanagtem Wettbewerb profitieren die Fahrgäste. Darüber hinaus wollen wir, dass die Trassenpreise gesenkt werden und dadurch weitere Spielräume für niedrigere Ticketpreise und zusätzliche Angebote auf der Schiene entstehen. Auch das Preissystem der Deutschen Bahn muss transparenter werden. Fahrgäste haben beim Ticketkauf im Internet schon lange kein Vertrauen mehr, den besten Preis zu erhalten. Da immer mehr Menschen unterschiedliche Verkehrsmittel auf ihren Reisen miteinander kombinieren, wollen wir dafür sorgen, dass vernetzte Mobilität durchgehend buchbar und bezahlbar wird. Mit der grünen Idee eines Mobilpasses kann eine vollständige Reisekette mit Bahn, Bus, Leihrad und Carsharing mit einer App gebucht und zum Bestpreis bezahlt werden.
- Digitalisierung und Modernisierung der Bahn voranbringen
Einen regelrechten „Wow-Effekt“ erlebt, wer die Stellwerke aus dem Kaiserreich sieht, mit denen der Bahnverkehr zum Teil bis heute gesteuert wird. Mit dieser bewährten Technik ist die Bahn lange gut gefahren, für die Fahrt in die Zukunft braucht es aber digitale Stellwerke und das Zugsicherungssystem ETCS. Nur so werden zusammen mit dem Ausbau der Schienenwege weitere Kapazitätssteigerungen möglich. Es ist fatal, dass die Bundesregierung die Digitalisierung der Schiene bis 2040 verschoben und kein Geld bereitgestellt hat.
Ähnlich sieht es mit der Elektrifizierung der Bahn aus. In Deutschland sind gerade einmal 60 Prozent des Schienennetzes mit Oberleitungen versehen. Wo Oberleitungen fehlen, ist die Bahn noch mit Dieselzügen unterwegs. Wir wollen den Elektrifizierungsgrad des Eisenbahnnetzes bis zum Jahr 2030 auf 75 Prozent erhöhen und den Bahnstrom komplett auf Ökostrom umstellen. Auf den verbliebenen Strecken wollen wir den Ausstieg aus dem Dieselantrieb durch Einsatz von Zügen mit alternativen Antrieben, z. B. durch batterieelektrische Fahrzeuge, voranbringen.
Kein Verständnis bringen wir auf für die Tatsache, dass die Bundesregierung bis heute kein verlässliches WLAN in den Zügen garantiert. Der so genannte 5‑G-Standard soll im Bundesfernstraßennetz praktisch flächendeckend eingeführt werden, während sich das Bahnnetz abseits der Magistralen weiterhin mit 4‑G begnügen muss. Den Regierenden ist ein guter Mobilfunk- und Internetempfang entlang der Straßen wichtiger als an den Schienenwegen, obwohl die Bahn prädestiniert dafür ist, unterwegs zu arbeiten oder etwa Filme zu schauen.
- Für einen fairen Wettbewerb sorgen
Für eine nachhaltige Mobilität und ernsthaften Klimaschutz müssen wir signifikante Verkehrsanteile des Autos auf die Schiene verlagern und den innerdeutschen Flugverkehr nach und nach komplett verlagern. Dazu braucht es klare Preissignale. Die Steuerfreiheit von Kerosin und die Bevorzugung des Flugverkehrs bei der Mehrwertsteuer im grenzüberschreitenden Verkehr müssen ein Ende haben. Auch die Subventionierung von Dieselkraftstoff von jährlich 7 Milliarden Euro verzerrt besonders den Wettbewerb zwischen dem Straßengüterverkehr mit Lkw und den Güterbahnen. Fairer Wettbewerb zwischen den Verkehrsträgern setzt auch voraus, dass dem Lkw alle externen Kosten über die Lkw-Maut angelastet werden. Bisher wird dem Schienenverkehr die Infrastrukturnutzung für jeden Kilometer in Rechnung gestellt, während der Lkw nur auf dem Bundesfernstraßennetz überhaupt mautpflichtig ist.
- Für eine politisch wahrnehmbare Bahnbranche
Die Bahnbranche in Deutschland krankt an zu viel Loyalität gegenüber der Politik. Seine bestimmenden Akteure, der DB-Konzern, die Wettbewerbsbahnen und Verbände aber auch Teile der Gewerkschaften, sind kaum Teil einer offenen Debatte über die Zukunft der Schiene. Vor allem die Abhängigkeiten gegenüber dem Bund als Finanzier dominieren die gesamte Branche und wirken innovationshemmend. Von den Eisenbahnverkehrs- und Infrastrukturunternehmen erwarten wir eine aktivere Rolle gegenüber der Politik, indem legitime Interessen offensiver vertreten werden. Sie sollten ihre Erwartungen klarer zur Sprache bringen und mehr Mut zur Kritik an der verfehlten Verkehrspolitik der letzten Jahrzehnte und anhaltend ausbleibenden politischen Weichenstellungen zugunsten einer starken Bahn aufbringen. Es kann nicht sein, dass die Bahnbranche den Groll der Fahrgäste über Verspätungen auf sich zieht, anstatt deutlich die unterlassene Verantwortung der Politik zu benennen und auch mal öffentlich politische Kurskorrekturen einzufordern.
Die Bahn muss vom Sanierungsfall zur Problemlöserin werden! Das kann sie, wenn die Politik sie lässt und sie zugleich unterstützt. Das kann sie, wenn die Bahnbranche sich besser organisiert und die Politik endlich dafür sorgt, dass Schienenwege statt Straßen ausgebaut werden. Das ist möglich, wenn außerdem das, wovon man schon genug hat, teurer wird und das, wovon man mehr haben möchte, nämlich die Bahn, einem fairen Wettbewerb ausgesetzt wird. Steigende Fahrgastzahlen verdeutlichen: Die Menschen wollen eine attraktive Bahn. Die Politik muss die abgemagerte Bahn daher von ihrer jahrzehntelangen kräftezehrenden Diät befreien und wieder aufpäppeln. Wir Grüne stehen für eine starke Bahn, für eine Bahn, die von Fahrgästen wegen ihrer Zuverlässigkeit, ihrer Serviceorientierung und ihren attraktiven Fahrtzeiten zunehmend lieber genutzt wird als Auto und Flugzeug. Dafür müssen jetzt Bahnunternehmen und Politik gemeinsam eine Fahrgastoffensive ergreifen!