30.06.2015 und 19.10.2015 – Briefe ans Eisenbahnbundesamt
Der Tiefbahnhof in Stuttgart soll mit einer starken Längsneigung errichtet werden, mit der Richtwerte um ein Mehrfaches überschritten werden. Da moderne Züge einen geringen Rollwiderstand aufweisen drohen hier Gefahren. In Köln rollen immer wieder Züge während des Ein- und Ausstiegs von Fahrgästen einige Meter weit davon, bis sie gebremst werden. Ich will wissen: Wie soll die Sicherheit in Stuttgart gewährleistet werden, wenn es schon in Köln bei einem deutlich geringeren Gefälle immer wieder zu Vorfällen kommt. Dazu habe ich im Juni 2015 die zuständige Genehmigungsbehörde, das Eisenbahnbundesamt (EBA), angeschrieben. Nachdem die Antwort völlig nichtssagend war, habe ich im Oktober 2015 meine Fragen wiederholt und zugespitzt.
Zweiter Brief, diesmal vom 19.10.2015:
Überhöhte Gleisneigung am Stuttgarter Tiefbahnhof
Sehr geehrte Damen und Herren,
vielen Dank für Ihr Schreiben vom 24. Juli 2015. Leider bleiben die von mir aufgeworfenen Fragen zur Gleisneigung in Ihrem Schreiben jedoch unbeantwortet. Der Verweis auf die drei Bundestagsdrucksachen ist meines Erachtens nicht zielführend, da in diesen Drucksachen andere Fragen gestellt wurden als ich per Brief vom 24. Juni an Sie richtete. Daher bitte ich erneut um die Beantwortung der in meinem Brief formulierten Fragen.
Insbesondere bitte ich Sie um ausführliche Erläuterung, wie der laut EBO für die Genehmigung einer über dem Grenzwert von 2,5 Promille liegenden Gleisneigung notwendige „Nachweis gleicher Sicherheit“ im Fall der Längsneigung beim Stuttgarter Tiefbahnhof konkret aussieht. Durch welche Maßnahmen hat die Vorhabenträgerin die für den Nachweis gleicher Sicherheit notwendigen Vorkehrungen in nicht zu beanstandender und nachvollziehbarer Weise erbracht und wodurch ist garantiert, dass im Stuttgarter Tiefbahnhof beim Halten von Zügen zum Fahrgastwechsel aufgrund der überhöhten Gleisneigung unbeabsichtigte Wegrollvorgänge – wie sie in Köln Hbf regelmäßig auftreten – ausgeschlossen sind?
Der Planfeststellungsbeschluss zu Stuttgart 21, auf den die Bundesregierung in der von Ihnen zitierten BT-Drucksache 18/2996 verweist, liefert hierzu meines Erachtens keine zufriedenstellenden Antworten und führt den Nachweis gleicher Sicherheit nicht.
Ich bitte Sie nochmals um die Beantwortung meiner Fragen und insbesondere der Frage, wie der Nachweis gleicher Sicherheit KONKRET aussieht.
Mit freundlichen Grüßen
Erster Brief vom 30.06.2015:
Überhöhte Gleisneigung am Stuttgarter Tiefbahnhof
Sehr geehrte Damen und Herren,
am 6. Mai 2015 fand im Verkehrsausschuss eine öffentliche Anhörung zum Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 statt. Unter der Beteiligung von externen Experten wurde unter anderem die Gleisneigung am geplanten Stuttgarter Tiefbahnhof diskutiert. Bezüglich der Genehmigung der Gleisneigung sowie deren Auswirkungen auf die Sicherheit des Bahnbetriebs blieben eine Reihe von Fragen offen.
Der neue Stuttgarter Hauptbahnhof soll eine Gleisneigung von 15,143 Promille erhalten. Dies liegt mehr als sechsfach über dem in der Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung vorgesehenen Grenzwert von 2,5 Promille (EBO § 7) und entspricht über die gesamte Bahnsteiglänge einem Höhenunterschied von ca. 6,5m. Eine solche Gleisneigung ist für einen Bahnhof dieser Größe sowohl in Deutschland als international beispiellos (von 5400 Haltepunkten in Deutschland weichen lediglich 14 vom EBO-Grenzwert ab; die allermeisten davon sind SPNV-Stationen und nicht mit dem Stuttgarter Hauptbahnhof vergleichbar).
Das Eisenbahn-Bundesamt genehmigte die sechsfach überhöhte Gleisneigung für den Stuttgarter Tiefbahnhof durch den PFA-Beschluss vom 28. Januar 2005. Laut EBO kann eine über dem Grenzwert von 2,5 Promille liegende Gleisneigung nur dann akzeptiert werden, „wenn mindestens die gleiche Sicherheit wie bei Beachtung dieser Regeln nachgewiesen ist” (EBO § 2 (2)). Der ehemalige Vizepräsident des Eisenbahn-Bundesamtes Ralf Schweinsberg erklärte jedoch, dass bezüglich der Gleisneigung kein gesonderter Sicherheitsnachweis erbracht wurde.
Dazu bitte ich Sie um Beantwortung folgender Fragen:
1) Wie ist es vor diesem Hintergrund möglich, dass das Eisenbahn-Bundesamt die überhöhte Gleisneigung genehmigte?
2) Wie sieht der erforderliche „Nachweis gleicher Sicherheit” konkret aus?
3) Durch welche Maßnahmen ist garantiert, dass im Stuttgarter Tiefbahnhof beim Halten von Zügen zum Fahrgastwechsel unbeabsichtigte Wegrollvorgänge aufgrund der überhöhten Gleisneigung ausgeschlossen sind?
4) Weiterhin bitte ich um detaillierte Darlegung, wie die Vorhabenträgerin angesichts der Gefahr des Wegrollens von Zügen während des Fahrgastwechsels und im Hinblick auf die Vorkommnisse z.B. in Köln HBF die hierfür notwendigen Vorkehrungen zur Gewährleistung der gleichen Sicherheit in nicht zu beanstandender Weise und nachvollziehbar in ihren Antragsunterlagen dargestellt hat (vgl. hierzu Planfeststellungsbeschluss PFA 1.1, S.373).
Der Kölner Hauptbahnhof verfügt an einzelnen Gleisen über eine Gleisneigung von bis zu 6,8 Promille. Damit ist er in Deutschland bislang der einzige Bahnhof dieser Größenordnung mit einer über dem EBO-Grenzwert liegenden Gleisneigung und lässt Rückschlüsse auf die Pläne in Stuttgart zu. Am Kölner Hauptbahnhof wurden zwischen 2010 und 2014 17 unbeabsichtigte Wegrollvorgänge von Zügen registriert, bei denen es auch zu Personenschäden kam. Hinzu kommt eine hohe Dunkelziffer von nicht offiziell registrierten Wegrollvorgängen. Angesichts dieser Sachlage bitte ich Sie um die Beantwortung folgender Fragen:
5) Wurden die Ursachen für die Wegrollvorgänge im Detail untersucht und wenn ja durch wen und mit welchen Ergebnissen?
6) Hat das Eisenbahn-Bundesamt keine Bedenken, dass die Gleisneigung am Stuttgarter Tiefbahnhof zu Wegrollvorgängen führen wird und damit ein Sicherheitsrisiko für Bahnreisende und Bahnpersonal darstellt?
7) Ist angesichts der Erfahrungen in Köln HBF beim Stuttgarter Tiefbahnhof mit der mehr als doppelt so starken Gleisneigung wie in Köln nicht von einer noch höheren Anzahl unbeabsichtigter Wegrollvorgänge auszugehen und ist aufgrund der stärkeren Beschleunigung am geneigteren Stuttgarter Tiefbahnhof nicht mit größeren Schäden zu rechnen?
8) Welche konkreten Maßnahmen hat die DB AG zur Verbesserung der Betriebssicherheit im Kölner HBF im Nachgang der beschriebenen Vorfälle konkret ergriffen?
Im Planfeststellungsverfahren zu PFA 1.1 vom 28. Januar 2005 erläuterte das Eisenbahn-Bundesamt, dass im Stuttgarter Tiefbahnhof nicht mit unbeabsichtigten Wegrollvorgänge zu rechnen sei, weil dort kein Abstellen von Eisenbahnfahrzeugen, sondern „nur ein Halten zum Aus- und Einsteigen der Reisenden” vorgesehen ist. Hierzu habe ich folgende Fragen:
9) Handelte es sich bei den Vorfällen in Köln HBF ausschließlich um abgestellte Eisenbahnfahrzeuge oder auch um Wegrollvorgänge während Fahrgastwechseln bzw. Betriebshalten?
10) Falls es sich in Köln auch um Wegrollvorgänge während des Haltens zum Aus- und Einsteigen von Reisenden handelte, widerspricht dies nicht der Aussage im Pflanfeststellungsbeschluss auf Seite 373, wonach die Problematik des Wegrollens von Zügen daher im Stuttgarter HBF nicht von Bedeutung sei, da dort nur Halte zum Fahrgastwechsel auftreten, wobei bei diesen Halten die Züge immer gebremst werden?
11) Ist die aktuelle EBO-Regelung zur Längsneigung in Bahnhofgleisen, wonach die Längsneigung 2,5 Promille nicht überschreiten soll zur europäischen TSI-Norm Infrastruktur kompatibel, die vorschreibt, dass an neugebauten Fahrgastbahnsteigen die Längsneigung 2,5 Promille nicht überschreiten darf, wenn dort regelmäßig Fahrzeuge an- oder abgekuppelt werden sollen?
12) Wird im Stuttgarter HBF das An- und Abkuppeln von Fahrzeugen sowie das Wenden von Zügen gestattet sein und wie beurteilen Sie dies angesichts des wieder erstarkten Trends zur Flügelzugbildung sowohl im Nah- wie besonders auch im Fernverkehr?
13) Entspricht der neue Stuttgarter Tiefbahnhof nach aktueller Planung angesichts seiner Längsneigung dieser Forderung der TSI Infrastruktur?
14) Wie beurteilen Sie die Aussage von Herrn Wolfram Neuhöfer (BMVI), wonach im neuen Stuttgarter HBF sogar eine Wendebremsprobe und damit das Wenden von Zügen möglich sei, wenn die Züge durch eine unabhängige Festhaltebremse wie z.B. eine Federspeicherbremse gehalten werden (diese Möglichkeit zur Zugwende wäre besonders im Hinblick auf Störungsfälle von großer Bedeutung)?
15) Bei welchen derzeit verbreitet eingesetzten Fahrzeugen sehen Sie die Bremskraft der Festhaltebremse als ausreichend an, um eine Wendebremsprobe im neuen Stuttgarter HBF zu ermöglichen?
16) Betrachtet das EBA den geplanten Tiefbahnhof als „Bahnhof” oder als Haltepunkt gemäß EBO?
Bei der Anhörung im Verkehrsausschuss des Bundestages legte Prof. Ullrich Martin ferner dar, dass die gegenwärtigen Bestimmungen der Eisenbahnbetriebsordnung zur Gleisneigung nicht mehr dem Stand der Technik entsprechen und zeitnah überarbeitet werden sollten.
17) Wie stehen Sie zu dieser Aussage von Professor Martin (vgl. Wortprotokoll der Anhörung Seite 15)?
18) Sehen Sie eine Notwendigkeit, die aktuelle EBO-Vorschrift zur Längsneigung angesichts des beispielsweise durch heutige Rollenachslager geringeren Losbrechwiderstands zu verschärfen?
Schließlich wurde bei der Anhörung auf das Thema Doppelbelegungen am Stuttgarter Tiefbahnhof eingegangen.
19) Können aus Ihrer Sicht am Stuttgarter Tiefbahnhof angesichts der überhöhten Gleisneigung und der damit verbundenen Gefahr von ungeplanten Wegrollvorgängen Doppelbelegungen von Gleisen erlaubt werden?
20) Ist der konventionell veranschlagte Zuschlag für ungenaues Halten bei der Bestimmung der nutzbaren Gleislänge nach Ihrer Meinung angesichts der hohen Längsneigung im Stuttgarter HBF ausreichend?
Im Voraus vielen Dank für Ihre Rückmeldung und Ihre Erläuterungen.
Mit freundlichen Grüßen