Innovative Form der Partizipation
Wie können Bürgerinnen und Bürger stärker in Prozesse von Meinungsbildung und Entscheidungen eingebunden werden? Diese Frage ist elementarer Bestandteil unserer Demokratie, die es immer wieder weiterzuentwickeln gilt.
Kürzlich hat der Bundestag einen Bürger*innenrat zum Thema „Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben“[1] beschlossen. Der Antrag dazu wurde von den drei Ampel-Fraktionen und den Linken gemeinsam eingebracht. Doch wozu ein solches Gremium, was ist das überhaupt und was wird damit bezweckt? Die Idee, die dahinter steckt, ist nicht ganz neu: Zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger werden angeschrieben und eingeladen, sich gemeinsam einer Fragestellung zu widmen, sich unter Mitwirkung einer Vielfalt von Fachleuten intensiv in die Thematik einzuarbeiten und schließlich Handlungsempfehlungen an die Politik auszusprechen. Dabei soll ein möglichst repräsentativer Querschnitt durch die Bevölkerung beteiligt werden. Mit dabei sein sollen also auch Personen, die sich sonst kaum irgendwo und erst Recht nicht in die Politik einbringen. Damit kommen Menschen zusammen, die sich sonst nie getroffen und sich schon gar nicht über komplexe politische Fragestellungen ausgetauscht hätten. Es kommen sehr unterschiedliche Lebenswelten, Erfahrungen und Sichtweisen zusammen. Ein neutrales Moderationsteam führt durch die Diskussionen. Die Aufgabenstellung ist klar, das Ergebnis jedoch offen. Wichtig ist, dass die Themen, mit denen sich die Räte befassen, von der Ebene (z. B. Bundestag oder Landtag), von der sie „beauftragt“ worden sind, entschieden werden können. Wenn der Bundestag einen solchen Rat einsetzt, dann muss das Thema von nationaler Bedeutung sein und durch den Bundestag entschieden werden können. Die Empfehlung des Rates dient dann der Erleichterung einer Entscheidung. Die gewählten Abgeordneten müssen sich damit umfassend beschäftigen, bleiben aber selbstverständlich in ihrer schlussendlichen Entscheidung frei. Verantwortung wird also nicht abgeschoben. Vielmehr wird die übliche politische Beratung erheblich ausgeweitet.
Die Bürger*innenräte dienen der Beratung politischer Entscheidungsträger*innen. Sie ergänzen damit die repräsentative Demokratie und stärken diese, indem Wege der Meinungsbildung auf breitere, transparentere Beine gestellt werden. Bisweilen wird ja kritisiert, man lasse sich als Politik zu wenig, zu einseitig oder zu technokratisch beraten. Die Räte können dazu beitragen, die Akzeptanz einzelner politischer Entscheidungen und des parlamentarischen Systems insgesamt zu erhöhen. Denn das ernsthafte Ringen um Lösungen trotz komplexer Zusammenhänge sowie einer großen Meinungsvielfalt und widerstrebender Interessenlagen wird so sichtbarer. Zudem kann dieses Format dazu beitragen, das politische Interesse in der Bevölkerung zu steigern, die Meinungsvielfalt und die sich daraus ergebenden schwierigen Prozesse der Entscheidungsfindung sichtbarer werden zu lassen. Die frühere Bürgerrechtlerin und ehemalige Grünen-Abgeordnete Marianne Birthler, die selber schon einem Bürger*innenrat als Vorsitzende vorgestanden hatte, erklärte in der Wochenzeitung „Das Parlament“, sie sei sehr beeindruckt gewesen, „wie viele Teilnehmer die Einsicht gewonnen haben, dass Politik doch eine sehr komplexe Angelegenheit ist, bei der es nicht nur um Meinungen und Streit, sondern um Interessen und Kompromisse geht.“ Birthler findet eine Kombination aus Bürger*innenrat und Volksentscheiden reizvoll. Hintergrund: Bei Bürgerentscheiden und Volksabstimmungen können die Bürgerinnen und Bürger lediglich mit „Ja“ oder „Nein“ votieren. Für komplexe Themen, bei denen es auch etwas anderes als „Schwarz“ oder „Weiß“ geben kann, ist dieses Format (für sich alleine) wenig geeignet. Zudem führen Volksabstimmungen häufiger zu Polarisierungen als dazu, gemeinsam eine Lösung für vielschichtige Herausforderungen zu suchen.
Als eine Vorzeigeregion für die Bürger*innenräte gilt das österreichische Bundesland Vorarlberg. Dort werden seit 2011 Erfahrungen mit diesem Format gesammelt. Es seien dort „wirkungsvolle Antworten“ gefunden worden, so zur Asylpolitik. Dem Thema sei damit die Schärfe der sonst bekannten Auseinandersetzungen genommen worden, so der zuständige Landesrat Christian Gantner.
Übrigens war ich selber einmal Teilnehmer eines Bürger*innenrates: Dem „Filderdialog“. Diesen hatte das Land Baden-Württemberg im Streit um Stuttgart 21 und konkret die zukünftige Führung der Gäubahn nach Stuttgart eingesetzt. Das Format war damals bei uns in Deutschland noch sehr neu und es wurden lehrreiche Fehler gemacht und auch Schwächen dieses Modells deutlich. Einige davon, so dass nur ein sehr geringer Anteil der ausgelosten Menschen zum Mitmachen bereit ist, lassen sich heilen, indem mehr Menschen angeschrieben werden und stärker für die Teilnahme geworben wird. Ein anderes Problem ist, dass sich die Repräsentativität nicht so einfach herstellen lässt. Bestimmte Bevölkerungsgruppen lassen sich schwerer erreichen und zum Mitmachen motivieren als andere. Das Beteiligungsformat der Bürger*innenräte steht also noch nicht am Ende seiner Entwicklung. Das gilt aber auch für unsere Demokratie als Ganzes und sollte uns daher nicht davon abhalten, dieses erfolgversprechende Modell durch praktische Anwendungsfälle weiter zu entwickeln.
Mein fachlich zuständiger Fraktionskollege Leon Eckert nimmt gerne Anregungen für geeignete Themen weiterer Bürger*innenräte entgegen: https://leon-eckert.de/b‑rat/
Quellen: Bundestags-Drucksache 20/6709, mehrere Ausgaben von „Das Parlament“, Staatsanzeiger B‑W v. 12.05.2023 sowie eigene Erfahrungen.
[1] Im Antrag wird auf das Spannungsfeld von individueller Freiheit und Verantwortung für die Gesellschaft hingewiesen. Leitfragen sollen unter anderem sein: Wo soll der Staat aktiv werden und wo nicht? Was wollen Konsument*innen über ihre Lebensmittel und ihre Herkunft wissen? Was gehört zu einer transparenten Kennzeichnung von sozialen Bedingungen, von Umwelt- und Klimaverträglichkeit und von Tierwohlstandards? Wie können Bürger*innen bei Kaufentscheidungen besser unterstützt werden? Dem Bürger*innenrat sollen 160 Personen angehören. Unterstützt werden sollen sie von 12 Wissenschaftler/innen.