Bundestag wird schrumpfen

17.03.2023

„Ampel“ beschließt Wahlrechtsreform

Was drei der frü­he­ren Regie­rungs­ko­ali­tio­nen lei­der nicht gelun­gen war, ist den drei „Ampel“-Koalitionsfraktionen nun gelun­gen: Eine Reform des Bun­des­tags-Wahl­rechts, mit der das Par­la­ment auf jeden Fall klei­ner wird.

Ursa­che für die Auf­blä­hung des Par­la­ments ist, dass die bei­den gro­ßen (aber klei­ner gewor­de­nen) Par­tei­en mehr Erst- als Zweit­stim­men bekom­men haben. Die­se Über­hang­man­da­te müs­sen aus­ge­gli­chen wer­den, um den Wil­len der Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler in der Zusam­men­set­zung des Par­la­ments abzu­bil­den. Es müs­sen dafür Aus­gleichs­man­da­te ver­ge­ben wer­den. Kon­kret, bezo­gen auf die letz­te Bun­des­tags­wahl: Die CDU errang 45 Direkt­man­da­te. Nach deren Zweit­stim­men­er­geb­nis­sen hät­ten ihr aber ledig­lich 34 Man­da­te zuge­stan­den. Um das Wahl­er­geb­nis nicht zu ver­zer­ren, bekam die SPD 36 und die CDU 29 zusätz­li­che Man­da­te. Die Zweit­stim­me ist die Haupt­stim­me und soll über den Pro­porz ent­schei­den.

Die Ampel hat nun ein neu­es Wahl­recht geschaf­fen. Erst­man­da­te wer­den in dem Umfang ver­ge­ben, wie die­se durch das Zweit­stim­men­er­geb­nis der jewei­li­gen Par­tei gedeckt sind. Das funk­tio­niert sehr ein­fach: Anhand des bun­des­wei­ten Zweit­stim­men­er­geb­nis­ses der Par­tei­en, die die Fünf-Pro­zent-Hür­de über­sprin­gen, wird die Anzahl der Man­da­te errech­net. Ins­ge­samt wer­den 630 Man­da­te ver­ge­ben. Die­se Zahl ist fest vor­ge­ge­ben. Die Anzahl der zuste­hen­den Man­da­te wer­den in einem ers­ten Schritt auf die Län­der ver­teilt und dann auf die­je­ni­gen Bewerber/innen, die in ihren Wahl­krei­sen die meis­ten Stim­men errun­gen haben. Bleibt dann eine Lücke, kom­men die Lan­des­lis­ten zum Zuge. Soll­te der Fall ein­tre­ten, dass mehr Wahl­krei­se gewon­nen wur­den, als Man­da­te nach Zweit­stim­men zuste­hen, kom­men die­je­ni­gen mit den bes­ten Ergeb­nis­sen zum Zuge. Das Par­la­ment kann so defi­ni­tiv nicht grö­ßer wer­den. In weni­gen Fäl­len kann die Situa­ti­on ein­tre­ten, dass Wahl­krei­se keine/n eigene/n Abgeordnete/n erhal­ten. Ähn­li­ches kann jedoch auch mit dem bis­he­ri­gen Wahl­recht gesche­hen: Schei­det ein direkt gewähl­tes Mit­glied aus dem Bun­des­tag aus, rückt in der Regel nie­mand aus dem ent­spre­chen­den Wahl­kreis nach (so gesche­hen, als mein CDU-Kol­le­ge aus mei­nem Wahl­kreis Nür­tin­gen das Man­dat auf­ge­ge­ben hat; aller­dings wird der Wahl­kreis noch durch drei Abge­ord­ne­te ver­tre­ten, die durch die Lan­des­lis­ten ihrer Par­tei­en ein­ge­zo­gen sind).

Die Grund­man­dats­klau­sel wird fal­len. Die­se ver­schafft bis­her Par­tei­en mit min­des­tens drei Direkt­man­da­ten, die jedoch die Fünf-Pro­zent-Hür­de ver­passt haben, den­noch den Ein­zug ins Par­la­ment. Da wir die Zweit­stim­me gestärkt haben, hät­te die­ses Kon­strukt nicht mehr dazu gepasst. Die Zweit­stim­me soll die ent­schei­den­de Stim­me sein. Eine Stär­kung der Zweit­stim­me bei gleich­zei­ti­ger Belas­sung der Grund­man­dats­klau­sel hät­te ver­mut­lich recht­li­che Pro­ble­me auf­ge­wor­fen.

Wir hat­ten als „Ampel“ die Oppo­si­ti­on eng ein­ge­bun­den. In der Uni­ons­frak­ti­on hat­te es durch­aus Sym­pa­thie für die Reform gege­ben. Nicht aber bei der CSU, die stark vom bis­he­ri­gen Wahl­sys­tem pro­fi­tiert hat. Es war auch die CSU, die in frü­he­ren Regie­rungs­ko­ali­tio­nen eine Reform ver­hin­dert hat­te.

Das bis­he­ri­ge Wahl­recht hät­te zu einem noch deut­lich grö­ße­ren Par­la­ment füh­ren kön­nen als dem jet­zi­gen. Die „Ampel“ hat die längst über­fäl­li­ge Reform geschaf­fen. Damit wird eine fes­te Grö­ße von 630 Abge­ord­ne­ten geschaf­fen. Das sind 106 weni­ger als der­zeit. Damit haben wir Hand­lungs­fä­hig­keit bewie­sen, obwohl auch die drei Regie­rungs­par­tei­en Man­da­te ein­bü­ßen wer­den. Für uns stand aber im Vor­der­grund, dass die Arbeits­fä­hig­keit des Par­la­ments sicher­ge­stellt wird. Der Wol­le der Wähler/innen, der in den Zweit­stim­men­er­geb­nis­sen zum Aus­druck kommt, war uns genau­so wich­tig. Bei­des, Arbeits­fä­hig­keit des Par­la­ments und der Respekt vor dem Wähler/innenwille, ist mit dem neu­en Wahl­recht gewähr­leis­tet.

Kom­men­ta­re von Medi­en

„Hoch anzu­rech­nen ist es den drei Koali­ti­ons­par­tei­en, dass sie den Spuk von Über­hang- und Aus­gleichs­man­da­ten end­lich been­den.“ (FAZ)

„Die gro­ße Koali­ti­on ist bei die­sem Test kra­chend durch­ge­fal­len. Die Ampel besteht ihn jetzt – wenn auch unter Schmer­zen.“ (Süd­deut­sche)

Nach­trä­ge 19.03.2023

Der Ver­fas­sungs­recht­ler Chris­toph Möl­lers erklär­te im Spie­gel-Inter­view (18.03.2023) auf Fra­gen nach der ver­fas­sungs­recht­li­chen Zuläs­sig­keit der Wahl­rechts­re­form: “Man hat sich dafür ent­schie­den, dem Ver­hält­nis­wahl­recht den Aus­schlag zu geben, also der Zweit­stim­me. Das ist ange­sichts der Ver­än­de­rung im Par­tei­en­sys­tem rich­tig. Die aller­meis­ten Kan­di­da­ten, die heu­te Wahl­krei­se gewin­nen, tun das nicht mehr mit der abso­lu­ten Mehr­heit, son­dern mit einer rela­ti­ven Mehr­heit. Also mit einer Mehr­heit der Gegen­stim­men. Es gibt Wahl­krei­se, die wer­den mit 18 Pro­zent gewon­nen. Bei der ver­gan­ge­nen Wahl erhielt nur ein Kan­di­dat über 50 Pro­zent. Es ist daher kein Pro­blem poli­ti­scher Gerech­tig­keit, die Bedeu­tung der Wahl­krei­se zu rela­ti­vie­ren.”

Ergänzung/Erläuterung dazu: Das schwächs­te Erst­stim­men­er­geb­nis, das bei der Bun­des­tags­wahl im Jahr 2021 für ein Direkt­man­dat aus­reich­te, lag bei 18,6 Pro­zent und ging an einen CDU-Bewer­ber in Sach­sen. Es folg­te ein Ergeb­nis von 20,1 Pro­zent, das in einem ande­ren Wahl­kreis fürs Direkt­man­dat sorg­te. Dem folg­ten eini­ge Wahlkreisgewinner/innen mit Wer­ten von 24 bis 28 Pro­zent. Das bes­te Erstim­men­er­geb­nis bun­des­weit erziel­te ein SPD-Bewer­ber in Nie­der­sach­sen mit 52,8 Pro­zent. Erstim­men­er­geb­nis­se von 40 und mehr Pro­zent gehö­ren der Aus­nah­me an.