Die Vorgeschichte
In den letzten Jahrzehnten war Schienen-Infrastruktur, d.h. Strecken, Überholgleise, Gleisanschlüsse und Güterverkehrsflächen leichtfertig preisgegeben, entwidmet und mit Supermärkten, Radwegen oder Wohn- und Gewerbegebäuden überbaut worden. Dabei ist sich die Politik einig, dass es zu deutlichen Verlagerungen von Personen- und Güterverkehren auf die Schiene kommen muss. In Koalitionsverträgen unterschiedlicher politischer Konstellationen waren Verdoppelungsziele für den Personenverkehr formuliert worden. Auch die anhaltend schlechten Pünktlichkeitswerte und fehlende Trassen für gewünschte Güterverlagerungen auf die Schiene machen den Handlungsbedarf bei der Infrastruktur deutlich. Hierfür sind erforderliche Kapazitäten auf den Bahnstrecken, insbesondere aber in den Bahnknoten, zu schaffen. Zudem fehlen Flächen für Serviceeinrichtungen, so für Abstellungen, Wartungen und Entsorgung.
Die Entstehung der neuen Rechtslage
Bereits der Koalitionsvertrag versprach die bessere Sicherung von gewidmeten Bahnflächen. Die Beschleunigungskommission Schiene befasste sich intensiv mit diesem Thema und sprach im Dezember 2022 in ihrem Abschlussbericht folgende Empfehlung aus: „Stillgelegte, aber noch für den Bahnbetrieb gewidmete Flächen werden künftig grundsätzlich nicht mehr entwidmet. Auf diese Weise können stillgelegte Bahnstrecken schneller reaktiviert werden.“ Sie gab auch Hinweise, unter welchen verschärfte Bedingungen Entwidmungen noch möglich sein sollen. Die drei Regierungsfraktionen hatten das Bundesverkehrsministerium um eine Formulierungshilfe für die Neufassung von § 23 Allgemeines Eisenbahngesetz (AEG) gebeten. Ziel war, Entwidmungen von Bahnflächen zu erschweren, um gewidmete Bahnflächen für mögliche zukünftige Entwicklungen nicht zu verlieren. Die Anforderung der drei Koalitionsfraktionen zu dem Thema lautete wie folgt:
- Grundsätzlich soll das Entwidmen von der Schiene gewidmeten Flächen erschwert werden. Dies betrifft insbesondere die für Durchgängigkeit der Strecke relevanten Flächen. Daher soll die Entwidmung dieser Flächen deutlich erschwert werden und die Beweislast umgekehrt werden: Es muss der Nachweis erbracht werden, dass eine langfristige Verkehrsperspektive auf dieser Strecke nicht mehr existiert
- Gleichzeitig soll die Nutzung von für den Bahnbetrieb gewidmeten Flächen für andere Formen des öffentlichen Verkehrs erleichtert werden, sofern die Befahrbarkeit der Strecke an sich gewährleistet bleibt und die Belange des Schienengüterverkehrs berücksichtigt bleiben. Dies soll insbesondere die Errichtung von Schnittstellen zu anderen Trägern des öffentlichen Verkehrs erleichtern
- Es soll ermöglicht werden, den (Weiter-)Betrieb nach PBefG zu erlauben, sofern innerhalb von einer angemessenen Zeit vor dem (Weiter-)Betrieb kein Güterverkehr stattgefunden hat. Damit soll die Umwidmung der Nutzung von EBO nach BoStrab erleichtert werden und das aktuell verwendete Verfahren vereinfacht werden
Das Ministerium legte daraufhin eine Formulierungshilfe vor, die vom Bundestag beschlossen wurde.
Die Sachlage
Der Bundestag hat im Oktober 2023 dem Formulierungsvorschlag aus dem Verkehrsministerium zugestimmt: „Der Bahnbetriebszweck eines Grundstücks, das Betriebsanlage einer Eisenbahn ist oder auf dem sich eine Betriebsanlage einer Eisenbahn befindet, liegt im überragenden öffentlichen Interesse und dient der Aufrechterhaltung sowie der Weiterentwicklung der Eisenbahninfrastruktur im Rahmen der kurz‑, mittel- oder langfristig prognostizierbaren zweckentsprechenden Nutzung“. Das neugefasste AEG lässt Abwägungen zugunsten von Entwidmungen fast nur noch dann zu, wenn der Zweck der Entwidmung der Umsetzung von Vorhaben des „überragenden öffentlichen Interesses“ dient. Für Wohn- und Gewerbebebauungen, Radwege und ‑abstellanlagen, Busbahnhöfe etc. sind demnach Entwidmungen (nahezu?) ausgeschlossen. Dadurch haben Perspektiven für Bahn-Entwicklungen erstmals die höchste Priorität. Dies ist nach Jahren des Rückbaus an Schienen-Infrastruktur sehr zu begrüßen. Mir liegt jedoch ein Fall vor, in dem das EBA wohl eine Entwidmung genehmigt hat für einen Zweck, der nicht dem überragenden öffentlichen Interesse dienen. Diesen Fall lasse ich gerade prüfen.
Die Wirkungen
Zum Zeitpunkt der Änderung von § 23 AEG waren mancherorts bereits kommunale Planungen auf Bahnflächen angelaufen. Es kann nicht übersehen werden, dass zahlreiche Projekte von Kommunen – Stand heute – nicht mehr umgesetzt werden können. Die betroffenen Kommunen waren von der Härte des Gesetzes überrascht und empfinden diese als Einschränkung ihrer Handlungsspielräume. Andererseits muss festgestellt werden, dass die Absicht, Entwidmungen zu erschweren, durch den Koalitionsvertrag und spätestens durch die Empfehlung der Beschleunigungskommission absehbar war. Die Deutsche Bahn war in der Kommission vertreten. Es stellt sich die Frage, weshalb sie nicht rechtzeitig Entwidmungen der Flächen, die sie bereits verkauft hatte, beantragt hatte.
Die Perspektive
Als Grüne stehen wir im Grundsatz zu den höheren Hürden für Entwidmungen. Wir können zugleich nachvollziehen, dass sich Kommunen gegen Einschränkungen ihrer Gestaltungsspielräume wehren. Wir sehen auch den Bedarf an zusätzlichem Wohnraum und an Gewerbeflächen. Brachen zu bebauen kann nachhaltiger sein als Flächen auf der „grünen Wiese“ als Bauland auszuweisen. Wenn ausreichende Entwicklungspotentiale zugunsten einer stark wachsenden Bahn nachgewiesen wurden, sollten auf verbleibenden Flächen daher andere Entwicklungen möglich sein. Wie sind solche Flächen zu identifizieren? Den Maßstab dafür liefert das AEG selbst, dort ist definiert: „ … sowie der Weiterentwicklung der Eisenbahninfrastruktur im Rahmen der kurz‑, mittel- oder langfristig prognostizierbaren zweckentsprechenden Nutzung“. D.h., was auch in langer Sicht benötigt wird, kann nicht entwidmet bzw. aus Bahnsicht unwiederbringlich verloren werden. Was auch perspektivisch nicht mehr benötigt wird, kann anderen Nutzungen zur Verfügung gestellt werden. Wir wollen wegkommen von der Schwarz-Weiß-Sicht, wonach immer nur entweder Bahn oder eine andere Entwicklung möglich ist. Es muss ein verbindlicher Weg gefunden und in Ergänzung des AEG § 23 definiert werden, wie die auch langfristig benötigte Schieneninfrastruktur in konkreten Fällen erfasst werden kann. Wir Grünen schlagen deshalb vor, einen solchen Weg zu einer Ergänzung des AEG zu gehen. Dabei sollten folgende Prioritäten verfolgt werden:
- Als Maßstab für die langfristige Entwicklung dienen die Verlagerungsziele für 2030 sowie ein darüberhinausgehendes Wachstum für die Schiene.
- Grundsätzlich soll das Entwidmen von der Schiene gewidmeten Flächen gegenüber dem ursprünglichen Recht erschwert werden. Dies betrifft insbesondere die für Durchgängigkeit der Strecke relevanten Flächen sowie Bahnknoten. Daher soll die Entwidmung dieser Flächen deutlich erschwert werden und die Beweislast umgekehrt werden: Es muss der Nachweis erbracht werden, dass eine langfristige Verkehrsperspektive auf dieser Strecke nicht mehr existiert
- Gleichzeitig soll die Nutzung von für den Bahnbetrieb gewidmeten Flächen für andere Formen des öffentlichen Verkehrs erleichtert werden, sofern die Befahrbarkeit der Strecke an sich gewährleistet bleibt und die Belange des Schienengüterverkehrs berücksichtigt bleiben. Dies soll insbesondere die Errichtung von Schnittstellen zu anderen Trägern des öffentlichen Verkehrs erleichtern
- Es soll ermöglicht werden, den (Weiter-)Betrieb nach PBefG zu erlauben, sofern innerhalb von einer angemessenen Zeit vor dem (Weiter-)Betrieb kein Güterverkehr stattgefunden hat. Damit soll die Umwidmung der Nutzung von EBO nach BoStrab erleichtert werden und das aktuell verwendete Verfahren vereinfacht werden
- Für den Betrieb von Bahn oder Stadtbahn nicht benötigte Flächen können insbesondere für Wohnraumnutzung in Frage kommen. Dabei ist jedoch dem Bundestag transparenter als bisher darzustellen, wie viele Flächen für welche Zwecke entwidmet werden. Kommunen sollte ein Erstzugriffsrecht auf diese Flächen zugestanden werden
Perspektiven für Stuttgart – Für eine bessere Bahn und mehr Wohnraum:
- Eine längere Unterbrechung der umsteigefreien Verbindung der Gäubahn an den Hauptbahnhof muss vermieden werden. Statt betrieblich zweifelhaften Provisorien sollte eine dauerhafte Lösung in Form von zwei Zulauf- und Bahnsteiggleisen gesucht werden. Die Deutsche Bahn und die Landeshauptstadt sollten gemeinsam nach einer Lösung suchen, die städtebaulich verträglich ist sowie eine gute Betriebsqualität und zugleich eine Wohnbebauung zulässt. Hierfür ist auch eine Lösung auf verschiedenen Ebenen (Bahn unten, Wohnen oben) zu prüfen. Dabei ist auch die aktuelle Finanzierungssituation für Bedarfsplanprojekte inklusive des Pfaffensteigtunnels zu berücksichtigen.
- Für die Panoramabahn ist ein Betriebskonzept zu erstellen. Die Strecke ist in den DKS zu integrieren.
- Für die Weiterentwicklung des Bahnverkehrs im Bahnknoten Stuttgart ist zu prüfen, ob und wie viele weitere Zulaufstrecken und Bahnsteiggleise in Kombination mit Punkt 1 erforderlich sind. Aufgrund des schon länger währenden Diskurses über die realen Kapazitäten des Eisenbahnknotens Stuttgart nach der vollständigen Inbetriebnahme von Stuttgart 21 kann eine solche Diskussion und Planung unter Einbeziehung bereits vorhandener Überlegungen und Gutachten erfolgen. Insbesondere sind die Berechnungen für die Kapazitätsbedarfe bei steigenden Fahrgastzahlen zu berücksichtigen. Diese sind auf ihre Umsetzung unter Einbezug neuer Möglichkeiten durch § 23 AEG zügig zu evaluieren. Doppelbelegungen im Tiefbahnhof sind ebenso zu vermeiden wie verspätungsanfällige, lange Regionallinien. Es ist eine Entwicklungsperspektive deutlich über das Jahr 2030 hinaus zu erstellen. Am einfachsten mitzurealisieren sind Verkehre von/nach Zuffenhausen/Feuerbach sowie Bad Cannstatt.
- Für die S‑Bahn ist neben dem Ausbau durch zusätzliche Linien ein Notfallkonzept mit direkter Erreichbarkeit des Hauptbahnhofs zu untersuchen.
- Die Untersuchungen und Planungen für das Nordkreuz sind voranzutreiben. Dabei sind die zukünftigen Rollen der Regionalbahnhöfe Bad Cannstatt und Stuttgart-Vaihingen zu klären.
- Für die zusätzliche Station ist nach kurzen Fußwegen von/zum Tiefbahnhof und damit komfortablen und barrierefreien Umsteigewegen zu suchen.
- Die Finanzierung der 3. Stufe des Digitalen Knoten Stuttgart ist seitens des Bundes sicherzustellen.
- Es ist darzulegen, wo die wachsenden Flotten an Fahrzeugen in der Region abgestellt und gewartet werden sollen.
- Nicht mehr für den absehbaren und den perspektivisch deutlich wachsenden Bahnbetrieb erforderliche Flächen können erst dann entwidmet werden, wenn alle Bahnverkehre komplett über den Tiefbahnhof abgewickelt werden (mit Ausnahme des Gäubahnbetriebs) und der Betrieb reibungslos funktioniert. Auf jeden Fall für den Wohnungsbau nutzbar ist das Gelände des Betriebsbahnhofs Rosenstein.
Unsere Position habe ich mehreren Oberbürgermeistern und in vielen Gesprächen mit Zeitungen erläutert. Im Bundestag drängen wir als Grüne darauf, dass das Bundesverkehrsministerium endlich das längt überfällige Moderne-Schiene-Gesetz zuzüglich eines Vorschlags für eine erneute Änderung von § 23 AEG vorlegt, um eine Beratung in der Koalition zu ermöglichen und baldmöglichst eine Entscheidung treffen zu können.
Überdies stehe ich im Austausch mit dem Eisenbahnbundesamt und warte auf die Beantwortung einiger Fragen, die sich überwiegend auf die Situation in Nürtingen (geplante Wohnbebauung “Bahnstadt“) beziehen.