12.05.2017
Mit Fahrgastverbänden, Verkehrsunternehmen, Krankenkassen und kommunalen Spitzenverbänden im Dialog
Bus und Bahn sind häufig nicht barrierefrei nutzbar – das wissen alle, die im Rollstuhl, mit Rollator, Kinderwagen oder E‑Scooter unterwegs sind. Auch wer blind oder gehörlos ist, kann öffentliche Verkehrsmittel häufig nicht ohne Probleme nutzen. Fehlende taktile Leitsysteme und Signaltöne erschweren blinden Menschen die Orientierung. Gehörlose Menschen werden hingegen von wichtigen Informationen ausgeschlossen, wenn diese nur durchgesagt werden. Von komplizierten Fahrscheinautomaten sind nicht nur Menschen mit Lernschwierigkeiten oft überfordert. Das Personenbeförderungsgesetz schreibt die vollständige Barrierefreiheit im ÖPNV bis zum 1. Januar 2022 vor. Dass dieses Ziel nicht erreicht wird, musste die Bundesregierung nun schriftlich eingestehen.
Corinna Rüffer, Sprecherin für Behindertenpolitik und Matthias Gastel, Sprecher für Bahnpolitik luden vor diesem Hintergrund Vertreter von Fahrgastverbänden, Verkehrsunternehmen, den gesetzlichen Krankenkassen, den Kommunalen Spitzenverbänden und interessierte Gäste zu einem Fachgespräch. Was sind die Gründe für den schleppenden Ausbau der Barrierefreiheit? Und wo liegen die größten Probleme? Wie kann sichergestellt werden, dass Menschen mit Behinderungen alle Verkehrsmittel gleichberechtigt nutzen können?
Menschen sind nicht von sich aus behindert, betonte Dr. Anton Hofreiter, Fraktionsvorsitzender, in seinem Grußwort. Es sind vielmehr Barrieren, die Teilhabe einschränken. Grundsätzlich sei genug Geld vorhanden, um Barrieren abzubauen, so Hofreiter. Schließlich lag der Überschuss von Bund, Ländern und Kommunen im letzten Jahr bei insgesamt 23 Milliarden Euro. Dass nicht mehr für Barrierefreiheit getan wird, ist also auch eine politische Entscheidung von SPD und Union. Auch die Ausrede, dass der Bund nicht stärker auf die Deutsche Bahn AG einwirken könne, Barrieren abzubauen, sei mehr als peinlich. Der Bund sei schließlich 100%iger Eigentümer der Bahn.
Das Gespräch der Referenten und Gäste konzentrierte sich zunächst auf Stadt und Region. Hier wies Christian Au, Fachanwalt für Sozialrecht, ehrenamtlicher Behindertenbeauftragter der Stadt Buxtehude und selbst Rollstuhlfahrer darauf hin, dass die Parkplatzsituation an Bahnhöfen und Haltestellen für gehbehinderte Menschen häufig ungenügend ist. Probleme gebe es auch bei der Handbikeversorgung: Derzeit bevorzugen die Krankenversicherungen aus Kostengründen die Finanzierung von Elektro-Rollstühlen, auch wenn die Nutzer darin deutlich weniger aktiv sind. Dabei sollte aber gelten: „Wer aktiv sein kann, darf nicht passiv gemacht werden“.
Der Vertreter des GKV-Spitzenverband, Steffen Waiß, zog sich darauf zurück, dass die Krankenkassen eben nur für die Versorgung mit Hilfsmitteln zuständig seien, die in der Wohnung oder deren näherer Umgebung benötigt werden. Das wird gegenwärtig für Menschen mit Behinderung zum Problem, wenn es um die Finanzierung von Rollstühlen geht, die bestimmte Haltevorrichtungen für den Transport im ÖPNV benötigen. Auch E‑Scooter seien nicht von der GKV zu finanzieren, so Waiß. Eine bessere Kooperation der Leistungsträger sei allerdings wünschenswert.
André Bender, stellvertretender Behindertenbeauftragter der Stadt Koblenz, nahm den barrierefreien Ausbau der regionalen Verkehrsnetze in den Blick. Probleme gebe es unter anderem, weil Städte und Gemeinden bei zu hohen Kosten aussteigen könnten und gleichzeitig zu wenig Geld für die Finanzierung bereit steht. Darüber hinaus arbeiten die verschiedenen Partner innerhalb des Verkehrsverbundes oft schlecht zusammen, so Bender.
Die Situation aus Sicht eines Verkehrsunternehmens vertrat Oliver Glaser, Geschäftsführer der Verkehrsbetrieb Potsdam GmbH. Die mangelhafte Definition von Standards der Barrierefreiheit sei ein zentrales Problem, so Glaser. Es sei überhaupt nicht klar, was mit der Vorgabe „vollständige Barrierefreiheit“ konkret gemeint sei. Wie groß dürfe eine Lücke zwischen Fahrzeug und Haltestelle bspw. sein? Solange es keine klaren Vorgaben gebe, fürchteten Kostenträger Investitionen, die bei späterer Definition Anpassungskosten zur Folge haben könnten. Der Fuhrpark wird in Potsdam nach und nach angepasst, erklärte Glaser. Auf Grund steigender Nachfrage bleiben aber auch ältere, nicht stufenfreie Straßenbahnen noch länger im Einsatz.
Das Ziel, im Jahr 2022 vollständige Barrierefreiheit zu erreichen, hielt auch Dr. Markus Brohm vom Deutschen Landkreistag für unrealistisch. Eine gemeinsam mit behinderten Menschen, Städten und Kommunen und den jeweiligen Baulastträgern durchgeführte Bestandsanalyse der Haltestellen mit anschließender Priorisierung sei aus seiner Sicht ein wichtiger Schritt für ein geordnetes weiteres Vorgehen. Aus seiner Sicht ist eine barrierefreie Infrastruktur nicht überall möglich oder unbedingt nötig. Die kommunale Ebene selbst benötige mehr Geld und eine klar abgestimmte Priorisierung, um die Barrierefreiheit umsetzen zu können.
Am Nachmittag verlagerte sich die Diskussion auf den Fernverkehr.
Zugang zum Öffentlichen Verkehr müsse immer so niederschwellig wie möglich sein, betont Alexander Ahrens von der Verkehrsberatung beim Verkehrsclub Deutschland e.V. (VCD). Die vorherige Anmeldung von einem Tag (Bahn) und länger (Fernbus) sei unbefriedigend. Dabei stellten sich Bus und Bahn gegenüber ihren behinderten Fahrgästen häufig wenig attraktiv dar: Wenn vorgerechnet wird, wie viele „normale Plätze“ durch einen Platz für einen Rollstuhlfahrer wegfallen oder vollkommen unverständliche Formulierungen in den Mitnahmebedingungen für Rollstühle oder ähnliche Hilfsmittel gewählt werden – so etwas wirke abschreckend. Für die Online-Buchung regte er für den Fernbusverkehr einen „Rollstuhl“-Button an, über den ersichtlich wird, welche Verbindungen überhaupt genutzt werden können.
Dr. Sven Strohkark vom Bahnhofsbetreiber DB Station & Service AG wies darauf hin, dass auch die Bahn aufgrund knapper Mittel priorisieren müsse. Auch wenn immer kritisiert würde, dass zunächst Bahnhöfe mit über 1000 Reisenden am Tag barrierefrei umgebaut würden, müsse man sehen, dass zwar 2/3 aller Bahnhöfe von jeweils unter 1000 Reisenden genutzt würden, aber nur 6% der Fahrgäste an diesen Bahnhöfen ein- oder ausstiegen. Die Informationen über Barrierefreiheit, die man über das Internet erhalten könne, hätten sich zudem stetig verbessert. Aus seiner Sicht sei unverständlich, dass die Länder bis ins letzte Jahr hinein im Regionalverkehr Ausschreibungen für Züge mit 55cm Einstiegshöhe vorgenommen haben, während Bahnhöfe gleichzeitig beim barrierefreien Umbau auf die vorgegebene Standardhöhe von 76 cm im Regional- und Fernverkehr umgebaut würden. Für den Bahnhofsbetreiber mache es aber keinen Sinn, sich an den Zügen zu orientieren, auch wenn einige Länder das gerne so hätten, weil die Nutzungsdauern der Züge deutliche geringer seien als die der Bahnhöfe.
Ulf‑D. Schwarz, Geschäftsführer des Bundesverbandes Selbsthilfe Körperbehinderte e.V. (BSK), berichtet ausführlich von den Erfahrungen der vom BSK unterhaltenen Meldestelle für barrierefreie Fernlinienbusse. Bei der Zulassung von neuen Bussen müsse geprüft werden, ob auch tatsächlich zwei Rollstuhlplätze vorhanden seien. Ein höheres Maß an Barrierefreiheit bei geringen Kosten könne auch erreicht werden, indem z.B. die Nutzung von ÖPNV-Bushaltestellen auch für Fernbusse zugelassen werde. Die Bahn müsse konsequent zu mehr fahrzeuggebundenen Einstiegshilfen kommen, damit unbesetzte Bahnhöfe zukünftig kein Ausschlusskriterium für die Fahrt mehr darstellten.
Zum derzeitigen Stand um die aktuellen Herausforderungen für einen barrierefreien Fernbusmarkt stellte sich Patrick Kurth, Leiter Politik von Flixbus, der Debatte. Aus seiner Sicht sei es vor allen Dingen zentral, dass die gleichen Vorgaben für alle Betreiber gelten und auch entsprechend überprüft würden. Das gelte auch für den europaweiten Verkehr. Wenn in Deutschland neu zugelassene Busse über zwei Rollstuhlplätze verfügen müssten, in anderen Ländern aber ein Platz ausreiche, entstünde kein einheitlicher Markt, was den Bau der Busse angeht. Außerdem seien wir gegenwärtig mit der absurden Situation konfrontiert, dass in Deutschland neue Busse mit einem Platz nicht fahren dürften, stattdessen aber noch die alten Busse ganz ohne solche Plätze im Verkehr sind. Ferner kritisiert er, dass eine praktikable Möglichkeit der Mitnutzung von nahegelegenen barrierefreien ÖNPV-Haltestellen durch Fernbusse derzeit nicht gestattet sei – selbst wenn dort Kapazitäten frei sind.
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Fazit:
Es gibt also noch viel zu tun für ein Verkehrsnetz für alle. Wir bleiben dran!
Wir werden uns insbesondere dafür einsetzen, dass Barrieren an Bahnhöfen und Haltestellen schneller abgebaut werden als bisher. Der Bund muss den Ländern ausreichend Gelder zur barrierefreien Umgestaltung des ÖPNV zur Verfügung stellen. Nicht zuletzt muss die Einhaltung festgesetzter Standards besser kontrolliert werden.