Gastbeitrag: Wie viele Straßen braucht Deutschland?

Hinweis: Dieser Beitrag ist schon älter und wurde möglicherweise noch nicht in das neue Format umgewandelt.

15.01.2021

Infrastrukturpläne müssen auf Klimaverträglichkeit überprüft werden

Gast­bei­trag von Win­fried Hermann/Matthias Gastel

Mit dem Streit um die A49 in Hes­sen rückt eine Grund­satz­fra­ge in den Fokus: In wel­chem Umfang sind in Deutsch­land ange­sichts von Kli­ma­kri­se und not­wen­di­ger Ver­kehrs­wen­de noch neue Stra­ßen sinn­voll und ver­ant­wort­bar?

Wir sind über­zeugt, dass es einen Para­dig­men­wech­sel im Stra­ßen­bau braucht: Erhalt und Sanie­rung vor Aus- und Neu­bau. Und es braucht einen Rich­tungs­wech­sel zur mas­si­ven Stär­kung der kli­ma­ver­träg­li­chen Ver­kehrs­mit­tel, vor allem von Bus und Bahn.

Die meis­ten Stra­ßen­bau­pro­jek­te im aktu­el­len Bun­des­ver­kehrs­we­ge­plan stam­men noch aus der Zeit der Groß­pro­jek­te „Deut­sche Ein­heit“. Man­che sind noch älter. Kli­ma­schutz spiel­te damals kei­ne Rol­le – und noch heu­te, da die Kli­ma­kri­se immer deut­li­cher erkenn­bar wird, wer­den die­se teu­ren Pro­jek­te gebaut.

Auch gro­ße, mil­li­ar­den­schwe­re Schie­nen­pro­jek­te schluck­ten jahr­zehn­te­lang Geld, das dann in der Flä­che fehl­te. Ein­glei­si­ge, nicht elek­tri­fi­zier­te alte Bahn­stre­cken, die im heu­ti­gen DB-Netz als Neben­stre­cken klas­si­fi­ziert wer­den, sind weder leis­tungs­fä­hig noch bedarfs­ge­recht. Nach Grund­ge­setz Arti­kel 87 ist der Bund für sie zustän­dig, doch er nimmt die­se Ver­ant­wor­tung nur unzu­rei­chend wahr. Er küm­mert sich um das Haupt­netz der DB und ver­nach­läs­sigt das einst gro­ße und leis­tungs­fä­hi­ge Gesamt­netz.

Mit Mit­teln aus dem Gemein­de­ver­kehrs­fi­nan­zie­rungs­ge­setz (GVFG), ergänzt durch Lan­des- und Kom­mu­nal­fi­nan­zie­rung, konn­ten Nah­ver­kehrs­stre­cken der Bahn im Bereich von Städ­ten und Bal­lungs­räu­men moder­ni­siert wer­den. Im Rah­men des Kli­ma­schutz­pa­kets der Bun­des­re­gie­rung wur­den end­lich die Mit­tel für Elek­tri­fi­zie­rung und Reak­ti­vie­rung deut­lich erhöht. Die­se Mit­tel sol­len bis 2025 sogar ver­sechs­facht wer­den und kön­nen auch für Stre­cken im länd­li­chen Raum ein­ge­setzt wer­den. Das sind begrü­ßens­wer­te Ver­bes­se­run­gen, wenn­gleich sie auch Jahr­zehn­te zu spät kom­men.

Anders ist es beim Stra­ßen­bau. Da sieht der Bund für jede Bun­destra­ße mit rein regio­na­lem Cha­rak­ter eine Finan­zie­rungs- und Rea­li­sie­rungs­ver­pflich­tung. Und so wird den beschlos­se­nen Kli­ma­zie­len zum Trotz wei­ter­ge­baut, als wach­se der Stra­ßen­ver­kehr wei­ter wie bis­her. Dabei spricht inzwi­schen auch die Bun­des­re­gie­rung von der zur Errei­chung der Kli­ma­zie­le not­wen­di­gen Ver­kehrs­wen­de. Die wird aber nicht gelin­gen, wenn Jahr für Jahr zehn- bis 20-mal mehr neue Bun­des­stra­ßen-/Au­to­bahn­ki­lo­me­ter ent­ste­hen als neue Schie­nen­we­ge.

Wahr­schein­lich gibt es in jeder Regi­on vier­spu­rig aus­ge­bau­te und mit Stand­strei­fen aus­ge­stat­te­te Bun­des­stra­ßen, die man für schlecht getarn­te Auto­bah­nen hal­ten möch­te. Vie­le sol­cher und ähn­li­cher Fäl­le fin­den sich im aktu­el­len Bun­des­ver­kehrs­we­ge­plan. Da wer­den dann zwei­spu­ri­ge Orts­durch­fahr­ten, die für die Anwoh­ne­rin­nen und Anwoh­ner zwei­fel­los uner­träg­lich sind, durch vier­spu­ri­ge Orts­um­fah­run­gen ergänzt, aber die alten Orts­durch­fahr­ten nicht umge­baut, um lebens­wer­te Orts­mit­ten zu schaf­fen – mehr Sicher­heit, weni­ge Ver­kehrs­lärm, mehr Lebens­qua­li­tät wären aber mög­lich. Die Ver­kehrs­ka­pa­zi­tät wird so zum Teil ver­drei­facht. All die­se Stra­ßen sind durch das ent­spre­chen­de Aus­bau­ge­setz des Bun­des­tags das ver­pflich­ten­de Bau­pro­gramm für die Auf­trags­ver­wal­tun­gen der Län­der.

Es wird höchs­te Zeit, die stra­ßen­bau­ori­en­tier­te Logik des aus der Zeit gefal­le­nen Ver­kehrs­we­ge­plans zu been­den. Es kann nicht sein, dass wir wei­ter Mil­li­ar­den­be­trä­ge in neue Stra­ßen inves­tie­ren, wäh­rend neben­an die Bahn im Die­sel­be­trieb mit aus­ge­dünn­tem Ange­bot die Fahr­gäs­te nur ein­mal pro Stun­de bedient, weil auf nur einem Gleis nicht mehr geht. Die Prio­ri­tä­ten stim­men ange­sichts der nicht mehr über­seh­ba­ren Kli­ma­ver­än­de­rung nicht. Wir bau­en groß­zü­gig Stra­ßen und klein­lich und lang­sam die Alter­na­ti­ven aus. Das kann und darf so nicht blei­ben. Viel wich­ti­ger wäre es, sich bei den Stra­ßen auf den Aus­bau gro­ßer Haupt­ach­sen zu kon­zen­trie­ren und das Geld im Übri­gen vor allem in den Erhalt und die Sanie­rung des vor­han­de­nen Stra­ßen­net­zes zu inves­tie­ren.

Wir brau­chen eine Aus­bau- und Moder­ni­sie­rungs­of­fen­si­ve für die Bahn, ganz beson­ders auch in den ver­nach­läs­sig­ten Räu­men jen­seits der gro­ßen Fern­ver­kehrs­ach­sen der DB. Die DB Netz ist der Pla­nungs­eng­pass. Die Schie­nen­aus­bau­maß­nah­men dau­ern ewig und sind sehr teu­er. Inves­ti­tio­nen in den Fern­ver­kehr müs­sen an die Rea­li­sie­rung fahr­gast­freund­li­cher Takt­ver­keh­re (Deutsch­land­takt) ange­passt wer­den. Dazu braucht es auch einen stär­ke­ren Fokus auf höhe­re Nah­ge­schwin­dig­kei­ten auf leis­tungs­fä­hi­ge­ren Stre­cken abseits der Renn­pis­ten. In einer so gestärk­ten, schnel­len Flä­chen­bahn liegt ein Schlüs­sel für die Ver­kehrs­wen­de.

Win­fried Her­mann ist Minis­ter für Ver­kehr im grün regier­ten Baden-Würt­tem­berg.

Mat­thi­as Gastel ist Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ter der Grü­nen und deren bahn­po­li­ti­scher Spre­cher.