07.04.2022
Neuer Anlauf ist offen
Wir haben nun wochenlang täglich oft über 200 Mails von Gegnerinnen und Gegnern einer Impfpflicht erhalten – alleine auf den Hauptaccounts der Berliner Abgeordnetenbüros. Hinzu kamen vermutlich nicht nur bei mir Mails an mein Regionalbüro, Briefe und sogar viele Faxe. Unter den Mails waren zahlreiche, die immer von denselben Personen abgeschickt wurden. Viele, vielleicht sogar die Mehrzahl der Mails, waren unsachlich und beleidigend. Eine Beantwortung ist in dieser Anzahl nicht möglich. Wir haben überwiegend gelöscht und versucht, Schreiben, die aus dem Wahlkreis kamen, als solche zu erkennen und zu beantworten. Erschreckend für mich war zu sehen, dass sich viele Menschen völlig in einer Blase bewegen und glauben für die Mehrheit, manchmal sogar „für das Volk“ zu sprechen. Rund 75 Prozent der Menschen in Deutschland sind mindestens zweimal geimpft und eine Mehrheit der Bevölkerung unterstützt eine Impfpflicht. Da ist es mir unverständlich, wie Menschen einerseits von „Panikmache“ in Bezug auf Risiken durch eine Infektion mit dem Virus sprechen, aber zugleich die Impfung mit „Euthanasie“ und „Massenmord“ in Verbindung bringen können. Ich bin es nicht, der Panik verbreitet. Aber ich nehme das Virus und seine Risiken ernst.
Bei dem Antrag aus der Mitte des Parlaments, den ich unterstützt und mitgezeichnet hatte, wäre eine Impfpflicht nicht automatisch gekommen, sondern erst nach erneuter Bestätigung durch den Bundestag im Spätsommer – abhängig von der dann bestehenden Pandemielage (Virusmutation, Impfstoff-Anpassung, Impfquote etc.)[1]. In meinen sehr regelmäßigen und gut nachgefragten Sprechstunden für Bürger*innen war die Impfpflicht nur ein- oder zweimal ein kritisch angesprochenes Thema. Auf der Straße, in Bus & Bahn und wo immer ich unterwegs und ansprechbar war, wurde ich nur sehr selten darauf angesprochen und wenn, dann bejahend. Bei allen öffentlichen Gesprächsangeboten zu verschiedenen Aspekten rund um „Corona“ hat sich in keinem einzigen Fall jemand mit ablehnender oder auch nur kritischer Haltung zum Impfen beteiligt.
Meine Sicht auf „Corona“ (inkl. sorgfältiger Abwägung des Pro & Contra zur Impfpflicht) habe ich hier sehr umfassend dargestellt:
https://www.matthias-gastel.de/rund-um-corona-mein-blick-auf-eine-komplexe-materie/
Hier mal einige Einblicke in die momentane Arbeit im Bundestag: Wir alle stehen seit Wochen und Monaten erheblich unter Druck: Wir haben die Pandemie mitsamt der Debatte um die Impfpflicht. Wir haben beide nicht erfunden, stehen aber in Verantwortung für die Gesundheit der Menschen und müssen sehen, dass Tag für Tag noch immer bis zu 300 Menschen im Zusammenhang mit einer Corona-Infektion versterben. Dieses Risiko und das von „Long-Covid“ muss mit dem Risiko schwerwiegender, nicht nur vorübergehender Nebenwirkungen durch das Impfen in Bezug gesetzt werden. Das Impfen kann, daran zweifelt kaum jemand, das Risiko schwerer Krankheitsverläufe reduzieren. Wir haben nun aber seit Wochen auch einen grausamen Krieg, der uns tagtäglich beschäftigt – und zwar in nahezu jedem Fachgebiet. Wir befassen uns ständig mit der aktuellen Lage, aber auch oft mit Flüchtlingsbeförderungen, Waffenlieferungen, diplomatischen Bemühungen, Fragen der Energiesicherheit und Reduzierung der Abhängigkeit von Energieimporten aus Russland, mit Sorgen über steigende Preise für Energie und Lebensmittel und Hilfsprogrammen für Bürger*innen und Unternehmen hierzulande. Daneben wollen wir auch noch unseren jeweiligen Aufträgen in unseren eigenen Fachgebieten gerecht werden und müssen uns in der neuen Koalition zusammen finden. Würden wir uns alle so intensiv mit der Impfpflicht befassen, dass wir alle Fragen dazu aus der Bürgerschaft beantworten könnten, kämen wir zu nichts anderem mehr. Niemand würde sich um Rente, niemand würde sich um Kultur, niemand würde sich um Soziales, niemand würde sich um Wirtschaft, niemand würde sich um Entwicklungshilfe und niemand würde sich um Europa kümmern. Ich könnte mich nicht um meinen Arbeitsschwerpunkt Bahn und Logistik kümmern. Für mich war daher wichtig, dass ich nach meiner Entscheidung, welchen Gesetzentwurf ich unterstütze, meine Ressourcen wieder verstärkt meinen Aufgaben im Verkehrsbereich widmen kann. Mit der sehr ausführlichen Darstellung, die sich unter obigem Link findet, konnte ich ja darstellen, wie und über welche Informationen und Diskurse ich zu meiner Meinung gelangt bin. Diese Meinung und mein daraus resultierendes Abstimmungsverhalten müssen nicht allen gefallen. Ich habe aber völlig frei von jeglichem Druck, ja sogar ohne eine Abstimmungsempfehlung aus meiner Fraktion, entscheiden können. Dies galt auch für die Kolleginnen und Kollegen aus den beiden anderen Regierungsfraktionen.
An alle, die in ihren Appellen an die Abgeordneten gefordert hatten, wir mögen unserem Gewissen folgen: In den drei Regierungsfraktionen waren die Abstimmungen „frei gegeben“ worden. Es gab also keine Fraktionsmeinungen und keine Empfehlungen für ein „Ja“ oder „Nein“ zur Impfplicht. Anders war dies bei CDU/CSU und AfD. Hier hatten die Fraktionen jeweils eigene Anträge gestellt und die Abgeordneten waren angehalten, diesen zuzustimmen und nicht dem Gesetzentwurf für eine Impfpflicht, der aus der Mitte des Parlaments entstanden war. In der Unionsfraktion herrschte das, was landläufig als „Fraktionszwang“ betitelt wird. Das Taktieren stand über der Sache. Man wollte die Koalition für ihre fehlende eigene Mehrheit vorführen. Dabei hätten, das weiß ich aus persönlichen Gesprächen mit Unionsabgeordneten, viele gerne für die Impfpflicht gestimmt. Die Impfpflicht ist also vermutlich deshalb vorläufig gescheitert, weil eben NICHT alle Abgeordneten ihrem vielbeschworenen Gewissen folgen konnten. Es gab also keine Mehrheit für eine Impfpflicht. Überraschend deutlich wurde der Gruppenantrag gegen die Einführung abgelehnt. Ob es in den nächsten Wochen einen neuen Anlauf für eine Impfpflicht geben wird ist derzeit nicht absehbar.
[1] Der kurzfristig geänderte Gesetzentwurf sah, in Kürze dargestellt vor: Impfpflicht für Menschen ab 60 Jahren und Beratungspflicht für alle Volljährigen bis 60 Jahre. Nachweiserbringung ab 15. Oktober. Option auf eine spätere Entscheidung für eine Impfpflicht ab 18 Jahren. Die Forderung von CDU/CSU nach einem Impfregister wurde in den veränderten Gesetzentwurf aufgenommen.