„In der Türkei gibt es immer weniger Freiheit“

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Tea pouring into glass from metal teapot
 

 

03.09.2016

Im Gespräch mit Aleviten

Mein Schwer­punkt ist die Außen- und kon­kret die Tür­kei­po­li­tik ja nicht. Manch­mal bedau­re ich es, dass ich neben mei­nem „Lieb­lings­the­ma“, der Ver­kehrs­po­li­tik, so wenig Zeit habe, um mich um ande­re Poli­tik­fel­der zu küm­mern. Heu­te habe ich mir mal wie­der die Zeit dafür genom­men. Ich habe der ale­vi­ti­schen Gemein­de Fil­der­stadt einen Besuch abge­stat­tet, um mehr über die Lage in der Tür­kei zu erfah­ren und dar­über zu dis­ku­tie­ren.

300 Mit­glie­der hat die Gemein­de, die seit 1989 über eige­ne Räu­me ver­fügt. Die­se kom­men aus Fil­der­stadt, Lein­fel­den-Ech­ter­din­gen und ande­ren umlie­gen­den Gemein­den. Ob es häu­fig so poli­tisch zugeht, wenn sich die Mit­glie­der tref­fen, wie es heu­te war, weiß ich nicht.

Ein­gangs habe ich aus­ge­führt, wes­halb mir die­ses Tref­fen so wich­tig ist und was mich bewegt. Zum Einen sind es die Nach­wir­kun­gen der Arme­ni­en-Reso­lu­ti­on des Deut­schen Bun­des­ta­ges. Es ist völ­lig okay, die­se in der Sache zu kri­ti­sie­ren oder grund­sätz­lich für falsch zu hal­ten. Was aber nicht angeht ist, wenn Beschimp­fun­gen oder gar Dro­hun­gen gegen Mit­glie­der des Bun­des­ta­ges, zumeist gegen tür­kisch­stäm­mi­ge, aus­ge­spro­chen wer­den. Wer auf Dau­er in Deutsch­land lebt, soll­te Deutsch­land als ers­te Hei­mat betrach­ten und akzep­tie­ren, dass tür­kisch­stäm­mi­ge Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­te nicht Ver­tre­ter tür­ki­scher Inter­es­sen in Deutsch­land sind und schon gar nicht erwar­tet wer­den kann, dass die­se so abstim­men, wie dies die tür­ki­sche Regie­rung ger­ne hät­te. Zum Ande­ren bewegt mich das, was sich in der Tür­kei seit dem Putsch­ver­such, der ein­hel­lig ver­ur­teilt wird, den Erdo­gan jedoch als „Geschenk Got­tes“ bezeich­net hat, ver­än­dert: Die Ent­las­sung zehn­tau­sen­der Staats­be­diens­te­ter, die Ein­schrän­kung der Pres­se- und Mei­nungs­frei­heit und sogar eine Debat­te über die Wie­der­ein­füh­rung der Todes­s­stra­fe. Für die Men­schen bedeu­tet dies immer mehr Will­kür und immer weni­ger Frei­heit. Vor allem die Min­der­hei­ten haben dar­un­ter zuneh­mend zu lei­den. Wir wol­len die Tür­kei lang­fris­tig ger­ne in die EU auf­neh­men, wenn es die Tür­kin­nen und Tür­ken wün­schen. Aber mit dem Kurs der letz­ten Jah­re, der in den letz­ten Wochen noch ver­stärkt wur­de, bewegt sich die Tür­kei immer wei­ter vom euro­päi­schen Wer­te­ge­rüst weg.

Der Vor­sit­zen­de der Gemein­de betont, dass sich die Ale­vi­ten als „sehr offe­ne Reli­gi­ons­ge­mein­schaft“ ver­ste­hen, die bei­spiels­wei­se für die Gleich­be­rech­ti­gung der Frau­en ein­tritt.

Hier gebe ich eini­ge Debat­ten­bei­trä­ge wider:

Die Unru­hen in der Tür­kei betref­fen uns stark. Wir sind besorgt, denn jeder hat Ver­wandt­schaft in der Tür­kei. Dort gibt es Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen gegen Min­der­hei­ten, vor allem gegen die Ale­vi­ten. Die Ale­vi­ten wer­den in der Tür­kei nicht ein­mal als Reli­gi­ons­ge­mein­schaft aner­kannt.

Ich habe Sor­gen davor, dass sich die Tür­kei auf dem Weg in die Dik­ta­tur befin­det. Es gibt immer weni­ger Frei­heit. Erdo­gan will den isla­mi­schen Staat. Er nutzt den Putsch­ver­such, um sei­ne Macht aus­zu­bau­en. In der Tür­kei gibt es aber auch nach wie vor offe­ne Gebie­te, näm­lich die Urlaubs­re­gio­nen, in die man fah­ren kann.

In der Tür­kei gibt es Rück­schrit­te bei den Frau­en­rech­ten. Waren Kopf­tü­cher frü­her im öffent­li­chen Dienst ver­bo­ten, so sind die­se nun sogar im Poli­zei­dienst erlaubt.

Erdo­gan wird Sul­tan. Einen Palast hat er ja schon.

Ich habe am Tag vor dem Putsch­ver­such Flug­ti­ckets für einen Tür­kei­ur­laub in den Som­mer­fe­ri­en gebucht. Da eine Stor­nie­rung nicht mög­lich war, sind wir doch geflo­gen. Es war ein ganz nor­ma­ler Hotel­ur­laub. Was ein­zig nicht nor­mal war: Man spür­te die Ver­ängs­ti­gung der Men­schen auf den Stra­ßen. Es wur­de häu­fig nur getu­schelt. Aus Angst unter­hielt sich nie­mand in der Öffent­lich­keit über Poli­tik.

Gülen ist für uns genau­so wie Erdo­gan, wir wer­den als Ale­vi­ten von bei­den nicht aner­kannt.

Deutsch­land muss Erdo­gan in die Schran­ken wei­sen und darf mit ihm kei­ne Ver­ein­ba­run­gen wie bei­spiels­wei­se die für die Visa­frei­heit tref­fen und ihn auch nicht vor Wah­len durch Tref­fen auf­wer­ten. Euro­pa ist da zu gut­mü­tig. Den Umgang mit Erdo­gan fin­de ich unpro­fes­sio­nell.

Dass in Ber­lin 30.000 Tür­ken für Erdo­gan auf die Stra­ße gin­gen macht mir Angst.

Zu vie­le hei­ßen alles, was Erdo­gan macht, für gut.

(Eine Frau) Wir waren jetzt in der Tür­kei im Urlaub, haben uns aber nicht aus dem Hotel raus getraut. Hat­ten Angst vor voll­ver­schlei­er­ten Per­so­nen. War­um wird das in Deutsch­land nicht ver­bo­ten?

(Ande­re Frau) Ich will ein Kopf­tuch­ver­bot für Schü­le­rin­nen an deut­schen Schu­len.

(Ein Mann) Das Kopf­tuch ist nichts als Gleich­ma­che­rei. Dage­gen soll­te die Poli­tik etwas machen.

Mei­ne Erwi­de­rung zu den For­de­run­gen nach Ver­bot von Voll­ver­schleie­rung und Kopf­tuch:

Ich fin­de bei­des nicht gut, die Voll­ver­schleie­rung leh­ne ich als Zei­chen der Unter­drü­ckung und weil Inte­gra­ti­on damit nahe­zu unmög­lich wird ab. Aber von Ver­bo­ten hal­te ich nichts. Für ein Ver­bot der Voll­ver­schleie­rung gibt es ange­sichts der gerin­gen Anzahl voll­ver­schlei­er­ter Frau­en in Deutsch­land kei­nen hin­rei­chen­den Anlass und auch die Wir­kung, dass eini­ge der Betrof­fe­nen dann nur noch zuhau­se blei­ben wür­den, spricht dage­gen. Und was die Schu­len angeht: Ein Kopf­tuch hin­dert nie­mand an der Erfül­lung der Schul­pflicht. Was aber nicht akzep­tiert wer­den darf, ist das Fern­blei­ben bei­spiels­wei­se vom Schwimm­un­ter­richt. Der Lehr­plan gilt für alle.

Und noch­mal zurück zur Tür­kei: Ich fin­de, dass Deutsch­land und die EU von der Tür­kei sehr klar Rechts­staat­lich­keit und die Ein­hal­tung der Men­schen­rech­te ein­for­dern müs­sen. Der Ver­bleib der Bun­des­wehr muss been­det wer­den, wenn Mit­glie­der des Deut­schen Bun­des­ta­ges nach wie vor ihre dort sta­tio­nier­te “Par­la­ments­ar­mee” nicht besu­chen dür­fen. Und die Bei­tritts­ver­hand­lun­gen für einen EU-Bei­tritt gehö­ren aus­ge­setzt, wenn die Tür­kei unter Erdo­gan sich wei­ter von den Wer­ten der EU weg­be­wegt. Alle Türen zum Gespräch zu schlie­ßen wäre aber falsch. Viel­mehr müs­sen vor­han­de­ne Gesprächs­ka­nä­le genutzt wer­den, um die Erwar­tun­gen deut­lich zu machen. Denn die Lage der Men­schen, ins­be­son­de­re der Min­der­hei­ten, in der Tür­kei kön­nen und dür­fen uns nicht gleich­gül­tig sein.