Interview auf Bundestag.de
Foto: Staubprobensammler an der Messstelle Stuttgart-Neckartor (links frisch, rechts nach 24 Stunden)
“Die EU hatte lange Geduld mit Deutschland”
Herr Gastel, in ihrem jüngsten Mahnschreiben an die Bundesregierung unterstützt die EU-Kommission ausdrücklich „die Einrichtung von Umweltzonen mit verschärften Zufahrtsbeschränkungen“. Wie schwer wiegt diese Einmischung aus Brüssel?
Die EU hatte lange Geduld mit Deutschland. An 57 Prozent aller verkehrsnahen Messstationen werden regelmäßig die Grenzwerte für Stickoxide überschritten. Betroffen sind viele Städte von Kiel bis München, in denen Menschen unter den gesundheitlichen Folgen der zu hohen Konzentration von Luftschadstoffen leiden. Die Bundesregierung hat die Mahnschreiben aus Brüssel immer wieder ignoriert – daher ist es nur verständlich, dass die EU-Kommission sie nun unmissverständlich auffordert, dafür zu sorgen, dass die Grenzwerte im Interesse der Bevölkerung tatsächlich eingehalten werden.
Dass sich die EU-Kommission so deutlich für die blaue Plakette ausspricht, ist ungewöhnlich. Normalerweise stellt sie es den Mitgliedstaaten frei, wie sie die Vorgaben erfüllen.
Ja, das ist aber durchaus nachvollziehbar. Je länger der Bund es schuldig bleibt, konkrete Lösungen zu nennen, desto konkreter formuliert eben die EU-Kommission ihre Erwartungen.
Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass die Bundesregierung letztlich doch zu einer einheitlichen Linie kommt und die Einführung der blauen Plakette unterstützt? Was erwarten Sie als Antwort?
Ich erwarte natürlich von der Bundesregierung, dass sie sich endlich zur blauen Plakette bekennt. Allerdings rechne ich nicht wirklich damit. Ich fürchte eher, dass sie wieder darauf verweist, dass die zuständigen Behörden der Länder aufgrund des Bundes-Immissionsschutzgesetzes in eigener Zuständigkeit entsprechende Maßnahmen erlassen können. Ich kann mir auch vorstellen, dass sie erneut vorschlägt, Fahrzeuge mit einer hohen innerstädtischen Kilometerleistung wie Linienbusse, Taxis oder Lastwagen der Stadtreinigung umzurüsten, um die Luftqualität zu verbessern.
Könnte denn die Umrüstung dieser Fahrzeuge die Feinstaub- und Stickoxidbelastung in den Städten ausreichend senken?
Die Umrüstung ist auf jeden Fall sinnvoll, allerdings würde sie das Problem nicht lösen. Das hat ein Wirkungsgutachten des Landes Baden-Württemberg klar gezeigt. Demnach ließen sich die Luftschadstoffe nicht so weit zu reduzieren, dass die Grenzwerte eingehalten würden. Der Anteil dieser Fahrzeuge am Gesamtverkehr ist einfach zu gering. Fahrbeschränkungen werden sich also in den betroffenen Städten nicht vermeiden lassen.
In Stuttgart wird es ab 2018 Fahrverbote für ältere Dieselfahrzeuge bei Feinstaubalarm geben – das hat die Landesregierung in Baden-Württemberg beschlossen. Das zeigt, wie Länder und Kommunen gegen die Luftverschmutzung vorgehen können. Warum braucht es dennoch die blaue Plakette?
Wir brauchen sie aus zwei Gründen: Erstens, damit es eine bundesweit einheitliche Regelung gibt und keinen Flickenteppich unterschiedlichster Regelungen in den einzelnen betroffenen Städten. Man stelle sich vor, für jede Stadt in Deutschland mit überschrittenen Grenzwerten würden eigene Fahrbeschränkungen definiert: Mal dürften Euro-6-Diesel in die Innenstadt fahren, mal abwechselnd nur Fahrzeuge mit geradem oder ungeradem Kennzeichnen – das wäre das reine Chaos. Mit einer bundesweit geltenden Regelung und damit gleichen Standards wäre die Einhaltung der Vorschriften auch viel besser zu kontrollieren. Das ist der zweite Grund, der für eine blaue Plakette spricht: Sie lässt sich gut sichtbar auf der Windschutzscheibe des Fahrzeugs aufkleben und leicht überprüfen. Kontrollen über Fahrzeugscheine wären viel komplizierter.
Von der blauen Plakette könnten bundesweit rund 13 Millionen ältere Dieselfahrzeuge betroffen sein – Fahrzeuge, die unter anderem Handwerkern, Gewerbetreibenden und Menschen mit geringen Einkommen gehören. Für sie käme die Plakette de facto einem Fahrverbot gleich, oder, wie Minister Dobrindt es nannte, einer „Enteignung“ – schließlich würden sie gezwungen, neue Fahrzeuge zu kaufen. Finden Sie das vertretbar?
Ich möchte zunächst daran erinnern, dass es Herr Dobrindt war, der den Ländern vorgeschlagen hat, sie sollten auf Grundlage des Bundes-Immissionsschutzgesetzes eigene Regelungen zu Fahrverboten erlassen. Konkret plädierte er sogar dafür, zur Einhaltung der Grenzwerte nur noch Benziner fahren zu lassen. Dieselfahrzeuge der Euro-Norm 6 wären ausgeschlossen gewesen. Sein Vorschlag ging damit über das hinaus, was wir Grünen wollen. Wir sagen: Dieselfahrzeuge der Euro-Norm 6 sollen fahren dürfen. Und für den Wirtschaftsverkehr und Taxis definieren wir Ausnahmen.
Sie sprechen über temporäre Fahrverbote, wie Baden-Württemberg sie eingeführt hat?
Ja, diese sollen ab 2018 an Tagen mit hoher Stickoxid- und Feinstaubbelastung gelten. Ab 2020 plädieren wir Grünen für ganzjährige Fahrbeschränkungen für Fahrzeuge mit besonders hohen Emissionen. Bis diese in Kraft treten, soll es Übergangsfristen geben, damit sich alle – gerade auch Handwerker und Betriebe – darauf einstellen können. Zudem planen wir Ausnahmegenehmigungen für den Wirtschaftsverkehr und Taxis. Längerfristige Ausnahmen halten wir aber nicht für sinnvoll: Letztlich geht es doch darum, die Grenzwerte für Luftschadstoffe im Interesse der Gesundheit der Menschen einzuhalten. Deswegen sind wir Grünen für die blaue Plakette – und den Ausbau des öffentlichen Nah- sowie Radverkehrs. (sas)