Über Menschenhass, die Rolle sozialer Medien und die Bildung im Islam
Vor rund 20 Jahren saßen wir noch zusammen im Gemeinderat der Stadt Filderstadt. Michael Blume für die CDU und ich für die Grünen. Inzwischen ist er Religions- und Antisemitismusbeauftragter des Landes Baden-Württemberg, während ich seit 2013 im Bundestag sitze.
Unter dem Motto „Hass im Netz“ habe ich Michael Blume zu einer Gesprächsrunde mit anschließender Diskussion nach Nürtingen eingeladen. Rund 30 Interessierte waren dazu ins Stadtbüro der Nürtinger Zeitung gekommen.
Vor einigen Jahren dachte man noch, das Thema Antisemitismus würde sich mit den Altnazis erledigen. Inzwischen ist die Zahl antisemitischer Vorfälle stark gestiegen: Gibt es mehr Vorfälle oder sind wir sensibler geworden und zeigen eher an? Blume bestätigt, dass Antisemitismus ein sehr altes und ständig vorhandenes Phänomen ist, er aber leider in einer globalisierten und vernetzten Welt zunimmt. So gibt es inzwischen selbst in Ländern Judenhasser, in denen gar keine der insgesamt nur rund 16 Millionen Juden leben.
Das Ganze geht Hand in Hand mit verschiedenen Verschwörungstheorien. „Die Leute wollen glauben, dass böse Mächte die Welt beherrschen“, sagt Blume und erklärt diese Denkweise mit Erfahrungen aus der Kindheit. Damit hängt zusammen, ob jemand die Welt positiv oder negativ sieht. Unterschieden hat er zwischen dem antiken, islamischen und christlichen Antisemitismus. Durch die neuen Medien hat der Antisemitismus neuen Aufschwung erhalten. Michael Blume ist sich sicher, dass der Antisemitismus seinen Höhepunkt noch nicht erreicht hat, aber er wagt die Prognose, „dass er dieses Mal unsere Demokratie nicht zerstört!“
Michael Blume hat sich erst vor kurzem von Facebook und Twitter abgemeldet. Hauptgrund für ihn war allerdings nicht der Hass, der ihm dort von verschiedenen Seiten entgegenschlägt, sondern das Geschäftsmodell der Betreiber. Der Nutzer ist für die Betreiber lediglich ein Produkt, der manipuliert wird, um dessen Daten zu Geld zu machen, kritisiert Blume, der sich nun mehr dem Bloggen im Internet und dem Radio widmet. Außerdem ist ihm sauer aufgestoßen, dass Facebook inzwischen mit dem rechtslastigen Portal Breitbart-News kooperiert. „Was in diesen asozialen Medien passiert, spürt man in der ganzen Gesellschaft. Ich bin nicht grundsätzlich dagegen, sondern für bessere digitale Medien“, stellt er klar.
In seinem Buch „Der Islam in der Krise“, das ich zur Vorbereitung auf die Veranstaltung gelesen habe, spricht Blume vom „stillen Rückzug“ von immer mehr Musliminnen und Muslimen. Es hat mich interessiert, was genau er damit meint. Blume, der selbst mit einer muslimisch-sunnitischen Türkin und gemeinsamen Bekannten von uns verheiratet ist, erklärt das so: Auch Muslime sind zunehmend säkularisiert und ziehen sich leise aus der Religion zurück. Formal austreten können Muslime im Gegensatz zu den Christen nicht. Es gibt eine steigende Anzahl von Menschen mit muslimischen Vorfahren, die selbst nicht religiös sind, aber statistisch dennoch dem Islam zugeordnet werden. Dazu kommt, dass die islamische Mitte zusammengebrochen ist und es auch auf Youtube oder Facebook kaum liberale Angebote gibt. Mir ist in Blumes Buch aufgefallen, dass er kritisiert wie viele undemokratische Staaten von Saudi-Arabien unterstützt werden. Wegen seiner Ölvorräte hofiert der Westen dennoch dieses Land, das nach innen und außen brutal agiert. Vor allem der Satz: „Wer nach lauten Klagen über Kriege und islamische Extremisten selbst Erdöl tankt und verheizt, finanziert die Unterdrücker und Terroristen direkt mit“, hat mich sehr beeindruckt. Konsequenz: „Europa, die USA und weitere Staaten wie Indien und Japan wären nicht nur umwelt‑, sondern auch friedens- und religionspolitisch gut beraten, ihre Abhängigkeit von Öl und Gas so schnell wie möglich zu reduzieren.“
Ich habe Michael Blume gefragt, ob der Islam derzeit ähnlich Prozesse durchläuft, wie das Christentum nach dem Mittelalter. Das war ja auch an vielen Kriegen, Ablasshandel, Hexenwahn und Unterdrückung beteiligt. Auch in der christlichen Geschichte macht er als Auslöser für Turbulenzen ein neues Medium aus, nämlich den Buchdruck. Als Europa vor rund 500 Jahren in Aufruhr geriet, wurde in der islamischen Welt der Buchdruck und damit der Zugang zu Bildung und Wissen verboten. Die damit erzielte Stabilität bedeutete aber auch Stagnation.
Der damit verbundene Niedergang der damals bedeutenden islamischen Kultur wurde allerdings den Juden angelastet, erzählt Blume. Bildung ist wiederum ein zentrales Element des jüdischen Glaubens. Dazu gehört es auch Lesen und Schreiben zu können. Diese Fähigkeiten machen in der jüdischen Tradition das Kind zum Erwachsenen und bedingen demokratische Bildung. Eine tiefere und umfassendere Bildung hält Blume daher für unerlässlich für alle, denn „Kein Mensch wird als Antisemit oder Rassist geboren“. Der Antisemitismus wendet sich auch gegen Bildung und Rechtsstaatlichkeit. „Dieser Hass wird nie satt“, bedauert Blume. Außerdem ist es einfach einen Schuldigen zu haben, denn „das verhindert Objektivität“.
Da das Internet anonym und missverständlich ist, haben wir miteinander verglichen, wie wir Menschen erreichen wollen: beide sind wir bei klassischen Veranstaltungen präsent und suchen das persönliche Gespräch. Während ich auf Märkten und bei Hausbesuchen Gesprächsangebote unterbreite und Rede und Antwort stehe, macht Michael Blume Podcasts, führt Lehrerfortbildungen durch und versucht eine gemeinsame Öffentlichkeit herzustellen. „Analog wird das neue „Bio“, ist sich Blume sicher und grinst.