Festlegung auf einen Parlaments-Antrag
Mit der nachfolgenden Textsammlung rund um die Coronapolitik, insbesondere das Impfen und eine mögliche Impfpflicht, gebe ich Einblicke in meine Einholung von Informationen, meinen Prozess der Meinungsfindung, meine Wahrnehmung von öffentlichen Diskussionen und den Dialog mit Bürgerinnen und Bürgern. Leider muss ich jedoch auch auf Geschwurbel, Drohungen und die mutwilligen Verdrehungen von Fakten eingehen. Weil es mir so wichtig ist gleich vorab: Auch ums Impfen kann es unterschiedliche Meinungen geben. Für eine Impfpflicht gilt das umso mehr. Grundlage eines jeden politischen Diskurses ist einerseits, sich Argumente des Für und Wider anzuhören und sich daraus eine Meinung zu bilden. Grundlage ist aber ebenso, dass die eigene Meinung sachlich vorgetragen und der anderen Meinung mit Respekt begegnet wird. Das fällt leider vielen Menschen schwer, wie die nachfolgende Aufstellung von Auszügen aus Mails, die mich erreicht haben, zeigt.
Schwurbler-Texte und Zunahme von Gewalt(androhung) im Corona-Kontext (aus Mails an mich entnommen)
„Die Impfpflicht ist eine Straftat gegen die Menschlichkeit.“
„Ich persönlich habe den Wunsch, dass am Ende eines solchen Prozesses ähnlich geartete Urteile gefällt werden, wie im ersten Menschenrechtsprozeß in Nürnberg nach dem zweiten Weltkrieg. Möge Gott Ihrer Seele gnädig sein.“
„Das war der 3. WK gegen die Erdbevölkerung … und darum sind Vergleiche Juden = heutige Kinder / Menschen durchaus zulässig!“
„Scheiß Regierung, Scheiß Bundestag, Scheiß Beamtenpack“
„Seien Sie versichert, dass Sie sich werden verantworten müssen, insbesondere wenn Sie sich in der “OK BundesreGIERung” betätigen! U. A. dafür, dass Sie ein schwerstkriminelles Regime unterstützen, so z.B. bei der Aushebelung der Grundrechte mitgeholfen und ihre VERPFLILCHTUNGEN gegenüber den Deutschen NICHT eingehalten haben und lediglich als eine Art “Volkskammerwichte” fungiert haben, um organisierter Kriminalität den Weg zu ebnen. Das wird mit “Bewährungsstrafen” nicht mehr zu heilen sein?!“
„Mit den Pandemie-Maßnahmen werden die Menschenrechte, Strafgesetze und das Völkerrecht verletzt. Sie sind an dem mit großem Abstand schwersten international organisierten Verbrechen der Menschheitsgeschichte und einem erneuten Massenmord beteiligt.“
„Sie sind in der Position über Menschenleben mitzuentscheiden, ob ein gesunder Mensch mit einer Spritze sein Leben verlieren wird oder mit schwere Impfnebenfolgen Leben muss. Mit welchem Recht können Sie über Menschenleben entscheiden, wer gibt Ihnen das Recht dazu? Das deutsche Volk ist es nicht! Mit Ihrer Entscheidung für die Impfpflicht werden Sie für gesunde Menschen das Todesurteil aussprechen und dafür verantwortlich sein!!!“
„Ich möchte Sie nur darüber aufklären, dass wir uns in einem noch nie dagewesenem faschistoidem, totalitären Gesellschaftssystem befinden.“
„Beenden Sie unverzüglich alle Pandemie-Maßnahmen, insbesondere die Impfungen, bevor es für eine friedliche Lösung zu spät ist.“
„Das ist eindeutig Diktatur.“
„An alle Geimpften: Ihr werdet mit Garantie sehr schnell an Krebs oder Herzerkrankungen sterben!“
Diese und unzählige weitere Schreiben, die von Verachtung gegenüber demokratischen Institutionen und gewählten Vertreterinnen und Vertretern geprägt sind, erreichen uns an vielen Tagen dutzendfach. Leider sind darunter zunehmend auch Drohungen gegenüber Leib und Leben. Der Präsident des Gemeindetages Baden-Württemberg, Steffen Jäger, berichtete von einer zweistelligen Anzahl von Todes- und Gewaltandrohungen gegen kommunale Mandats- und Amtsträger sowie deren Familien und Kinder alleine im Januar. Diese stünden auch im Kontext der Corona-Proteste und der Montagsspaziergänge. (Quelle: Staatsanzeiger 18.02.2022)
Bemerkenswert ist ein Schreiben von 27 jungen Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern, über das „Business Insider“ berichtete. Demnach würden sich gegen ihren Berufsstand gerichtete Attacken durch radikale Gegner der Corona-Schutzmaßnahmen seit Dezember häufen. Beklagt werden Fackelzüge vor Privatwohnungen bis hin zu Morddrohungen.
Der Staat muss diese Drohungen verfolgen und sanktionieren. Denn, gleich, wie wir in der Kommunalverwaltung oder der Landes- und Bundespolitik denken und handeln, wir handeln nach bestem Wissen und Gewissen. Wir können unterschiedliche Meinungen haben, die es dann aber auch zu respektieren gilt. Drohungen werden zu keiner anderen Politik führen, wohl aber zu tieferen Gräben und womöglich dazu, dass sich weniger Menschen finden, die Verantwortung für unseren demokratischen Rechtsstaat und unsere Gesellschaft übernehmen wollen.
Was ich ausdrücklich hervorhebe ist, dass es auch viele sachliche Zuschriften von Menschen gibt, die ihre Meinung und ihre Zweifel an der Coronapolitik und/oder den Impfstoffen ausdrücken. Diesen Menschen, insbesondere aus meinem Wahlkreis, antworte ich und gehe auf deren Argumente ein, so gut ich es kann.
Zu den „Spaziergängen“
Ein Polizeipräsident[1] beklagt: „Vor allem die sogenannten Spaziergänge belasten uns enorm. Weil es keine Anmeldungen gibt, gibt es für uns auch keine Ansprechpartner. Wir haben also keinerlei Informationen darüber, was wann wo passiert. Wir müssen als Polizei immer parat sein, was nicht mit dem regulären Dienst zu schaffen ist. Es braucht immer starke Zusatzkräfte, die wir aus ihrer Freizeit holen müssen.“ (…) Klar ist, ein Versammlungsleiter hat auch eine Verantwortung. Er muss Ordner stellen und dafür sorgen, dass Auflagen eingehalten werden. Dieser demokratischen Verantwortung will sich ganz offensichtlich niemand stellen.“ (…) Die „Spaziergänge“ finden nicht aus heiterem Himmel statt. Da steckt ja jemand dahinter. Es gibt Erkenntnisse, dass dies auch Akteure aus dem rechten Spektrum sind.“
Zu Grenzüberschreitungen und Gewaltaufrufen, die von den „Spaziergängen“ und deren Umfeld ausgehen, siehe weiter oben.
Angesichts der Tatsache, dass das Demonstrationsrecht ein hohes Gut ist und selbstverständlich auch für Kritiker*innen der Coronapolitik gilt frage ich: Weshalb kann eine Demonstration von denen, die diese initiieren, nicht als solche angemeldet werden? Weshalb wird mit „Spaziergängen“, die in Wirklichkeit (im Grundsatz legitime) Demonstrationen sind, versucht, den Rechtsstaat auszutricksen? Warum finden sich oft keine Verantwortlichen für die Demonstrationen? Aber auch: Weshalb unterbleibt zu oft die klare Distanzierung von Rechtsextremismus, Antisemitismus und Verharmlosung von Gewalt?
Gedanken zu den Medien/“Systemmedien“
Ob “Lügenpresse”-Rufe vor dem ZDF-Hauptstadtstudio und dem SWR-Funkhaus in Stuttgart, Plakate gegen die sogenannte “Systempresse” oder Bedrohungen von Medienschaffenden bei Protesten und Aufmärschen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie: Die Feindseligkeit gegenüber etablierten Medien und ihren Vertreterinnen ist zunehmend sehr präsent.
Bereits 2021 wurde Deutschland in der internationalen Rangliste der Pressefreiheit heruntergestuft – wegen der vielen Übergriffe auf Corona-Demonstrationen.
Ich bin sehr froh, dass wir die öffentlich-rechtlichen Medien haben und halte die häufige Kritik an der angeblich einseitigen Berichterstattung in der Corona-Krise für meist überzogen. Nach meiner Wahrnehmung gibt es bei grundlegenden Fragen, so der Notwendigkeit beschränkender Maßnahmen und der Sinnhaftigkeit des Impfens, eine weit überwiegende Einigkeit unter Fachleuten. Daran orientiert sich die Berichterstattung. Gerade jetzt, während des eskalierten Ukraine-Konflikts und des Krieges, zeigt sich der Wert dieser Medien: Bei uns informieren die öffentlich-rechtlichen Medien sachlich und weiten ihre Berichterstattung wegen der hohen Bedeutung aus. Sie können auf ein Reporter-Team aus aller Welt (auch aus dem Kriegsgebiet) zurückgreifen, breit berichten und viele Stimmen zu Wort kommen lassen. Aktuell wird besonders deutlich, hier zugespitzt dargestellt: In einem Land mit freier Presse und öffentlich-rechtlichen Medien berichten diese unabhängig und sorgsam, während in den sozialen Medien leider häufig Fake News verbreitet werden, um Verwirrung zu stiften. In Russland ist es genau umgekehrt. Dort verbreiten die Medien, die vom Staat gesteuert werden, falsche Nachrichten (so gebe es in der Ukraine beispielsweise überhaupt keinen Krieg). Wer sich in Russland über die wahre Lage informieren möchte, muss sich die Informationen in den sozialen Netzwerken suchen. Aktuell werden in Russland jedoch auch die sozialen Medien behindert.
Gedanken zur Zumutbarkeit einer Impfpflicht für bestimmte Tätigkeitsfelder
Es ist völlig normal, dass Menschen, die aus privaten oder beruflichen Gründen ferne Länder bereisen, sich gegen dort bestehende Risiken impfen lassen. So ist dies auch bei Dienstreisen. Ebenso ist es gewöhnlich, dass in Arbeitsfeldern, in denen bestimmte gesundheitliche Risiken durch Ansteckungen bestehen, Impfungen von Arbeitgeberseite eingefordert werden. Bei mir als Sozialpädagoge war dies auch der Fall. Derartige Impferwartungen oder auch ‑verpflichtungen gehören zur Verantwortung von Arbeitgebern. Die Bereitschaft, sich darauf einzulassen, ist Teil vieler Berufsbilder und muss für bestimmte Tätigkeit erwartet werden können. Wer nicht akzeptiert, dass bestimmte Vorkehrungen für den Selbst- und Fremdschutz erforderlich sein können, wozu auch Impfungen gehören können, hat im jeweiligen Beruf bzw. der Tätigkeit nichts verloren.
Impfpflichten sind übrigens keineswegs neu und können, wenn sie gut begründet sind, verfassungskonform sein. So gibt es beispielsweise eine Masern-Impfpflicht für Kinder in Kitas und Schulen und auch für Personal in diesen und weiteren sozialen/medizinischen Einrichtungen.
Wie viele Pflegekräfte sind eigentlich ungeimpft? Eine Umfrage des RKI, an der rund 16 000 Angestellte aus 104 Krankenhäusern teilnahmen, ergab, dass unter Klinikmitarbeitern schon Mitte November 92 Prozent gegen Covid-19 geimpft waren. Bei den Ärzten waren es sogar 98 Prozent, ähnlich wie bei den niedergelassenen Medizinern. Die kassenärztliche Bundesvereinigung geht deshalb „nicht davon aus, dass es zu einer Welle an personellen Ausfällen kommen wird“. FAZ v. 12.02.2022
Benevit, Betreiber von 26 Altenpflegeheimen, berichtet, die Impfpflicht bereits durchgesetzt zu haben. Die Impfquote sei von 80 auf 98 Prozent gesteigert worden. Der Unternehmenschef wird zitiert mit den Worten: „Dass es zu einer Abwanderung des Personals gekommen ist, kann ich nicht bestätigen. Im Gegenteil: Die Stimmung ist sehr positiv, die Mitarbeiter fühlen sich sicherer in der Arbeit.“ Quelle: StZ v. 23.02.2022
Junge Menschen in der Pandemie
„Die Pandemiebekämpfung wird auf dem Rücken der Kinder und Jugendlichen ausgetragen“. Dieser Vorwurf ist sehr oft zu hören. Mit dieser Aussage wird nicht immer dasselbe gemeint. Die einen wollen Einrichtungen in jedem Fall offen halten, um Bildung und soziale Kontakte der Kinder nicht zu beeinträchtigen. Die anderen fürchten um die Gesundheit der jungen Menschen oder auch die der Betreuungs- und Lehrkräfte durch die Infektionsrisiken.
Der Dachverband der Jugendgemeinderäte Baden-Württemberg spricht sich für eine allgemeine Impfpflicht aus. Quelle: Staatsanzeiger v. 28.01.2022
Der Landesschülerbeirat Baden-Württemberg spricht sich für die Beibehaltung des Präsenzunterrichts aus, zugleich aber auch für das Aussetzen der Präsenzpflicht. Quelle: StN v. 05.02.2022
Aktuell sehen 32 Prozent der Eltern von Schulkindern das Schutzniveau an Schulen als nicht ausreichend an. Quelle: Allensbach-Umfrage, StZ v. 02.02.2022
Für mediales Aufsehen sorgt derzeit der Aufruf „Wir werden laut“ von tausenden von Schülerinnen und Schülern. Diese bemängeln das aus ihrer Sicht hohe Infektionsrisiko an Schulen und die Gefahr, an long Covid zu erkranken. Der aktuelle „Durchseuchungsplan“ sei unverantwortlich und unsolidarisch. Gefordert werden unter anderem Luftfilter, kostenlose FFP2-Masken, die Reduktion von Gruppengrößen und mehr pädagogisches und schulpsychologisches Personal. Eine Präsenzpflicht dürfe es nicht geben. An deren Stelle müsse eine „Bildungspflicht“ treten.
Die Situation in den Schulen wurde in einem Artikel einer Lokalzeitung[2] meiner Region gut dargestellt. Hierfür wurden Stimmen von Lehrkräften und Schulsozialarbeiter*innen eingeholt. Deutlich war, dass das Ankommen der Erst- und Fünftklässler*innen im neuen schulischen Umfeld durch den Pandemiebedingungen extrem erschwert wurde. In Gesprächen, vor allem in Konfliktsituationen, lassen sich Stimmungen wegen der Masken schwer erkennen. Psychische Probleme wurden verschärft. Zugleich, auch davon wurde berichtet, sei ein Teil der Schüler*innen im Homeoffice aufgeblüht. Gerade den Introvertierten kam diese Unterrichtsform entgegen. Die Schilderungen decken sich mit meinen Gesprächen mit Schülerinnen und Schülern bei meinen Schulbesuchen.
Eine andere Lokalzeitung[3] meiner Region hat sich in den Kitas umgehört. Deutlich wurde, dass Erzieher*innen sich gewünscht hätten, dass bei einem Infektionsausbruch die Einrichtung geschlossen werden kann, da nicht mit Maske gearbeitet werden kann und Angst um die eigene Gesundheit besteht. Das Land lehnt die Schließung der Einrichtungen aber ab, um die Betreuung und frühkindliche Bildung nicht zu gefährden. Berichtet wird, wie schwierig es oft war und ist und wie viel an Improvisation erforderlich war und ist, die Einrichtungen bei hohem Krankenstand des Personals offen zu halten.
Nachtrag vom 13.03.2022: Die Sinus-Jugendstudie hat in einer umfangreichen Befragung von 14- bis 17-Jährigen auch nach dem persönlichen Befinden in der Coronazeit gefragt. Demnach ging es 68 Prozent der jungen Menschen gut oder sehr gut. Ein Drittel waren mit ihrem Leben in der Krise nicht zufrieden. Am häufigsten wurde gesagt, dass Einsamkeit (37 Prozent) und Langeweile (34 Prozent) das Leben in der Corona-Krise am stärksten geprägt hätten. Als problematische Aspekte wurden gesehen “Man bewegte sich zu wenig” (69 Prozent), “Angst, etwas im Leben zu verpassen” und “Antriebslosigkeit” (je 65 Prozent).
Es ist eben nicht immer alles schwarz oder weiß, wie uns vielfach von Bürgerinnen und Bürgern – meist in Mails an uns – suggeriert wird. Wir sitzen als Politik manchmal zwischen allen Stühlen und müssen mit stark gegensätzlichen Erwartungen umgehen.
Mit der psychologischen Beratungsstelle sprach ich in einem öffentlichen Videoformat über die soziale Arbeit in der Pandemie und vor allem über die Probleme für junge Menschen: https://www.matthias-gastel.de/soziale-arbeit-in-der-pandemie/
Mit einer Kinder- und Jugendpsychiater der Filderklinik sprach ich über die Auswirkungen der Corona-Maßnahmen auf junge Menschen: https://www.matthias-gastel.de/besuch-in-der-filderklinik‑2/
Mit der Kultusministerin des Landes Baden-Württemberg und dem Mitglied des Landesschülerrates, Johannes Brand, bot ich eine öffentliche Videokonferenz an, um über Corona-Maßnahmen an Schulen zu diskutieren: https://www.matthias-gastel.de/start-ins-neue-schuljahr/?utm_source=mailpoet&utm_medium=email&utm_campaign=okologische-mobilitat-oktober-2020_12
Meine Kritik an der Corona-Politik
Auch wenn ich die wesentlichen Grundzüge der Corona-Politik von Bund und Ländern unterstütze, weil für mich in einer Pandemiezeit der Schutz der Gesundheit der Menschen einen besonders hohen Stellenwert hat, so habe ich doch auch Kritik. Hier will ich gar nicht weit zurück schauen auf die Anfänge, als Kitas, Schulen und Spielplätze geschlossen waren, was im Rückblick falsch war. Später wurde deutlich stärker auf die Belange der Kinder und Jugendlichen geachtet und auf generelle, vorsorgliche Schließungen der genannten Institutionen verzichtet. Was aber über die inzwischen fast zwei Jahre der Pandemiebekämpfung leider unverändert geblieben ist, das ist die Unzuverlässigkeit und Kurzfristigkeit sowie schlechte Kommunikation von Maßnahmen. So war und ist beispielsweise die Verkürzung des Genesenenstatus auf drei Monate zu kurzfristig, ohne Kommunikation und ohne ausreichende fachliche Begründung erfolgt. Ein solches Vorgehen wirkt willkürlich und zerstört Vertrauen in die Politik. Ich teilte auch nicht die – inzwischen revidierte – Meinung des baden-württembergischen Ministerpräsidenten, dass Lockerungen von Beschränkungen vor Ostern kein Thema sein dürften. Wenn derzeit keine Überlastung des Gesundheitswesens zu befürchten ist, dann muss die Angemessenheit der Maßnahmen hinterfragt werden. Wenn die Kontaktnachverfolgung in der Gastronomie überwiegend Aufwand verursacht, jedoch kaum einen Nutzen bringt, dann hätte diese schon früher abgeschafft werden müssen.
Tendenziell stelle ich fest, dass die Politik zu langsam reagiert: Maßnahmen zum Gesundheitsschutz kommen spät, wenn sich die pandemische Lage verschärft und sie werden zu spät gelockert, wenn dies pandemisch vertretbar und damit verfassungsrechtlich geboten ist.
Das Impfen bleibt weiter sinnvoll
Impfen hilft, so die vielfache Meinung aus der Fachwelt, kaum mehr vor einer Übertragung der Infektion. Sie half und hilft weiterhin jedoch, das Risiko schwerer Erkrankungen zu reduzieren.
Dies hatte ich hier ausführlich zusammen getragen: https://www.matthias-gastel.de/stimmen-zum-impfen/
Da ich immer wieder auch Stellungnahmen derer lese, die dem Impfen allgemein oder im konkreten Fall von Corona (womöglich) eher skeptisch gegenüberstehen, verweise ich noch auf die „Handreichung zum Diskurs über eine SARS-CoV-2-Impfpflicht“ von der Gesellschaft Anthroposophischer Ärztinnen und Ärzte: Diese bezeichnen die bisherige Impfstrategie als erfolgreich. Die mit einer Infektion verbundenen Risiken schwerer Erkrankungen würden zwar auch bei der Omikron-Variante reduziert, die „Zeit der großen Impfwirkung“ liege aber bereits hinter uns, weshalb eine Impfpflicht nicht vertretbar sei. Eine risikoadaptierte Impfstrategie könne jedoch helfen, auf dem Weg in die Endemie schwere Erkrankungen und eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden.
Verfassungsrecht
Wir haben uns in der Fraktion selbstverständlich auch mit vielen verfassungsrechtlichen Fragen rund um eine mögliche Impfpflicht befasst. Hierzu hatten wir Verfassungsrechtler zu Gast, die uns die hohen Hürden aufzeigten.
Ein anderer Jurist, Stephan Rixen, Professor für Öffentliches Recht und Mitglied im Ethikrat:
„Es gibt ganz am Anfang des Grundgesetzes in Artikel 2 das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. Allerdings darf der Staat in nahezu alle Grundrechte eingreifen. Dazu muss er natürlich in dem üblichen Verfahren ein Gesetz erlassen, und er muss gute, verfassungsrechtlich akzeptable Gründe für eine Impfpflicht haben. Wir wissen aus der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes, dass sich die Mütter und Väter unserer Verfassung über die Impfpflicht Gedanken gemacht haben und keine generellen Einwände hatten.“
„Zunächst einmal braucht es ein Ziel, das klar definiert sein muss. Zum Beispiel den Schutz der Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens, was indirekt bedeutet, dass Gefahren für Leib und Leben abgewendet werden sollen. Das Mittel, um dieses Ziel zu erreichen, muss überhaupt geeignet sein, und es darf auch kein milderes Mittel geben. Und außerdem muss das Gesetz angemessen sein, es darf also nicht zu völlig unzumutbaren Belastungen führen.“
Allg. Impfpflicht
Wir sind bislang noch in jede neue Welle unvorbereitet hinein gestolpert. Immer gab es lange Diskussionen, bis (zu spät) gehandelt wurde, um die Gesundheit der Menschen – auf mal mehr und mal weniger angemessene Weise – zu schützen. Eine höhere Impfquote wäre mal eine erfreuliche Ausnahme, denn damit wären wir gut vorbereitet. Wir könnten uns vermutlich so manche Diskussionen um Schließungen und Beschränkungen ersparen und viele Menschenleben retten. Bislang sind in Deutschland bereits weit über 100.000 Menschen an (und mit) Corona gestorben[4]. Ich will und werde mich nicht daran gewöhnen, dass wir das einfach so zulassen.
Gesetzentwurf „Verpflichtende Impfberatung und Impfpflicht ab 50 Jahren“
Der Gesetzentwurf, dem ich mich angeschlossen habe, wurde von Kolleginnen und Kollegen aus den Fraktionen von Grünen, SPD und FDP erarbeitet. Er sieht die Einführung einer verpflichtenden Impfberatung für Erwachsene und eine Impfpflicht ab 50 Jahren unter Vorbehalt einer erneuten Bestätigung durch das Parlament vor. Wer Volljährig, aber nicht geimpft ist, muss ein Aufklärungsgespräch über die Corona-Schutzimpfung nachweisen. Beraten werden kann man dort, wo im Anschluss eine freiwillige Impfung vorgenommen werden kann. Ab dem 15. September kann der Bundestag auf Grundlage der dann aktuellen Pandemielage, der erreichten Impfquote und der wissenschaftlichen Erkenntnisse über die dann dominierende Virus-Variante und die verfügbaren (angepassten?) Impfstoffe über eine Impfpflicht für Menschen ab 50 Jahren entscheiden. Sinn und Zweck ist die gute Aufklärung über die Impfung, über die viel zu viele Fake News kursieren, und die Erhöhung der Impfquote, um den Schutz der vulnerablen Personengruppen vor schweren Krankheitsverläufen zu verbessern und die Überlastung des Gesundheitswesens zu vermeiden. Mit dieser Vorgehensweise soll vermieden werden, dass wir auch in den dritten Corona-Herbst und ‑Winter unvorbereitet hineinstolpern und dann wieder Maßnahmen ergreifen müssen, die weniger milde sind als dieser hier beschriebene Weg.
Stimmen aus der Fachwelt zur Impfung und zur Impfpflicht
Der Deutsche Ethik-Rat spricht sich mehrheitlich für eine allgemeine Impfpflicht aus. Die Vorsitzende, die Medizinerin Alena Buyx, die auch schon für ein langes Gespräch in unserer Fraktion war, ergänzte, dass hierfür flankierende Maßnahmen erforderlich seien. So müsse es eine sehr gute Impfinfrastruktur geben und eine zielgruppenorientierte Kommunikation.[5] Dies halte ich durch den Gesetzentwurf, den ich unterstütze, für gegeben.
Das von der Landesregierung Baden-Württemberg eingesetzte „Bürgerforum Corona“ spricht sich nach Beratungen mit einer Vielzahl von Fachleuten und Betroffenen mehrheitlich für eine allgemeine Impfpflicht und gegen 2G-Regelungen aus. Dies geht aus dem Abschlussbericht vor, den die Gruppe aus 55 Bürgerinnen und Bürgern vorgelegt hat. Im Februar 2021 hatte die Beratungsgruppe eine Impfpflicht noch klar abgelehnt.
Der Lungenfacharzt Cihan Celik (Klinikum Darmstadt, Oberarzt auf der Covid-Isolierstation) verweist darauf, dass sich Infektionszahlen und Krankheitslast bereits in der Delta-Welle auseinander entwickelt hätten. Dieser Effekt habe sich durch Omikron verstärkt. Der Hauptgrund dafür sei die steigende Immunisierung der Gesellschaft durch die Geimpften. Die schwersten Krankheitsverläufe gebe es nach wie vor bei den Ungeimpften. Quelle: Interview in FAZ v. 20.02.2022
Die Chefärztin des Instituts für Krankenhaushygiene und Mikrobiologie der Stiftung Mathias-Spital in Rheine beschreibt die Gefahr als groß, im Herbst wieder schlecht vorbereitet zu sein und verweist auf die Impflücke der ab 60-Jährigen. Quelle: Ebenfalls FAZ v. 20.02.2022, aber anderer Artikel
Im Pflegebereich, in dem die Beschäftigten die möglichen Folgen von Corona-Erkrankungen – aber auch mögliche negative Impf-Folgen von mehr als vorübergehender Dauer – am besten kennen, war die Impfquote schon lange vor der Entscheidung für eine einrichtungsbezogene Impfpflicht weit überdurchschnittlich hoch. Diese Tatsache betrachte ich ebenfalls als klares Statement.
Das Risiko anhaltender negativer Impffolgen wird von den meisten Fachleuten für gering gehalten. Seit Beginn der Impfkampagne wurden Maßnahmen ergriffen, um diese Risiken zu verringern: Es wird kaum mehr Astrazeneca geimpft, die Impfaufklärung wurde verbessert (u. a. Abraten von Sport an den Tagen nach der Impfung) und es wird nicht mehr in Blutgefäße gespritzt (Aspiration).
Ich verweise nochmal auf diese Stimmen aus der Fachwelt: https://www.matthias-gastel.de/stimmen-zum-impfen/
Wer Zweifel an den mRNA-Impfstoffen hat, kann inzwischen auf einen zugelassenen „konventionellen“ Impfstoff zurückgreifen.
Jüngst machte eine Auswertung der BKK ProVita die Runde. Sie hatte von „erheblichen Auffälligkeiten“ durch eine hohe Anzahl von Verdachtsfällen an Nebenwirkungen auf sich aufmerksam gemacht. Der BKK-Dachverband distanzierte sich von dieser Darstellung ebenso wie der Verband niedergelassener Ärzte. Es wurde darauf hingewiesen, dass in dieser Statistik auch Impfreaktionen wie leichte Schwellungen, Rötungen und körperliche Schwäche enthalten sei. Ich habe die BKK ProVita angeschrieben und um Aufklärung gebeten. Eine Antwort habe ich nicht erhalten. Allerdings hatte die BKK ProVita selber darauf hingewiesen, dass ihre Auswertung keine Bewertung zulasse, da man sich die Daten erst genauer anschauen müsse. Genau dies hat das Paul-Ehrlich-Institut zugesagt. Die BKK ProVita hat inzwischen ihre Auswertung von ihrer Homepage entfernt und sich vom Verantwortlichen für die Auswertung bzw. deren Veröffentlichung distanziert.
Meinungsbildung für eine demokratische Entscheidung
Man kann davon ausgehen, dass jede Abgeordnete und jeder Abgeordnete sich vor der Entscheidung über eine mögliche Impfpflicht gut informiert und sorgfältig eine eigene Meinung gebildet hat bzw. gebildet haben wird. Angesichts von täglich bis zu 100 E‑Mails und zahlreicher Gespräche mit Bürgerinnen und Bürgern aus dem eigenen Wahlkreis wurden wir alle über Monate hinweg mit den unterschiedlichen Meinungen, Erwartungen und Befürchtungen rund ums Impfen konfrontiert und haben uns damit auseinander gesetzt. So habe auch ich Tag für Tag Mails von Menschen gelesen, die eine Impfpflicht oder häufig auch das Impfen gegen Corona an sich ablehnen, mich mit den Argumenten befasst und in Form von Antworten damit auseinander gesetzt. Auch Papiere von Ärztinnen und Ärzten, die ihre kritische Haltung ausführlich begründet haben, habe ich gelesen. Im Gesundheitsausschuss gab es mehrfach Anhörungen[6] mit unterschiedlichsten Fachleuten, die aus den Fraktionen vorgeschlagen worden waren. Als Fraktion hatten wir interne Fachgespräche durchgeführt, so Ende Januar mit zwei Medizinerinnen und zwei Verfassungsrechtlern. Dabei ging es ums Impfen und eine mögliche Impfpflicht. Im Mittelpunkt standen die Wirksamkeit des Impfens, Risiken durch langfristige Nebenwirkungen und die verfassungsrechtlichen Hürden für eine Impfpflicht. Hinzuweisen ist darauf, dass meiner Fraktion auch fünf Ärztinnen und Ärzte angehören, die in die Fachszene hinein vernetzt sind und mit denen ich oft über unterschiedliche Aspekte der Pandemiebekämpfung gesprochen habe.
Das Für und Wider dürfte uns Parlamentarierinnen und Parlamentariern bestens bekannt sein. Daraus müssen sich aber nicht identische Rückschlüsse und Meinungen ergeben. Denn wir müssen Argumente die dafür und die dagegen sprechen (können) individuell bewerten und gewichten – und können dann fundiert zu unterschiedlichen Meinungen gelangen. Jemand, die oder der für die Impfpflicht stimmt, muss also nicht besser informiert sein als die Person, die dagegen stimmt – und umgekehrt. Jede und jeder kann schließlich nach eigenem Wissen und Gewissen abstimmen. Es gibt (außer vielleicht bei der AfD, die aus der Debatte eine parteipolitische Frage gemacht hat, um sich zu profilieren) keinerlei Druck, für einen bestimmten der verschiedenen aus der Mitte des Parlaments entwickelten Gesetzentwürfe zu stimmen. Wir Abgeordnete, insbesondere die aus den drei Regierungsfraktionen (da es keine „Regierungsmeinung“ und keine Fraktionsempfehlungen gibt), können völlig frei nach eigenem Wissen und Gewissen abstimmen. Die Abstimmung erfolgt also in höchsten Maße demokratisch und wird als solche – unabhängig vom derzeit offenen Ausgang – zu akzeptieren sein.
Beiträge von Kritiker*innen
Selbstverständlich lese ich auch Beiträge von Kritiker*innen der Coronapolitik und Fachleuten, die einer Impfpflicht skeptisch gegenüber stehen und/oder die Aufhebung einiger oder auch aller Maßnahmen fordern (siehe dazu auch meine Ausführungen oben). Ein Beispiel ist das Papier „Leben mit Covid“ des Lungenfacharztes Dr. Thomas Voshaar und weiterer Autoren. Sie sagen aus, dass sich eine Herdenimmunität nicht erreichen lasse und viele Regeln, so Maskenpflicht im Freien oder die Verkürzung des Genesenenstatus, nicht begründen ließen. Ziel müsse sein, „vor allem vulnerable Gruppen zu schützen“ und eine Überlastung des Gesundheitswesens zu vermeiden. Ich kann das Papier in weiten Teilen nachvollziehen. Aus meiner Sicht leidet es manchmal unter Formulierungen jenseits der Fachlichkeit, wenn beispielsweise die Müllberge durch die Schnelltests angeführt werden (von Medizinern und Aerosolforschern erwarte ich andere, nämlich fachliche Argumente) oder anderen Fachleuten indirekt eine ideologische Güterabwägung vorgeworfen wird. Eine solche wird nämlich genau dann nicht getroffen, wenn geschrieben wird, „Oberstes Ziel der Maßnahmen sollte sein, ein möglichst normales Leben zu garantieren.“ Wie an anderer Stelle bereits ausgeführt, müssen Grundrechte immer sorgfältig abgewogen werden. Dazu gehört dann auch das auf körperliche Unversehrtheit, wozu auch der Schutz vor dem Virus zählen kann. Auch die Tatsache, dass einer der acht Mitunterzeichner schon durch nachweislich falsche Berechnung zu Stickoxiden in der Luft aufgefallen ist, erhöht nicht die Glaubwürdigkeit der Thesen.
Kritikerinnen und Kritiker der Corona-Politik hätten vielfach die Chance gehabt, sich in meine Veranstaltungen einzubringen. Ich hatte mehrfach zu öffentlichen Veranstaltungen mit Fachleuten unter anderem aus der Medizin eingeladen. Nicht ein einziges Mal hat jemand mit grundlegender Kritik an der Corona-Politik teilgenommen. Auch in meinen regelmäßigen Sprechstunden kamen nur extrem selten Bürgerinnen und Bürgern mit entsprechender Kritik. Ich bedaure, dass diese so selten auf Gesprächsangebote reagieren.
Hier ist nochmal anzumerken, dass eine sorgfältige Meinungsbildung immer über die Auseinandersetzung mit verschiedenen Meinungen erfolgen muss. Ich war und bin sehr darauf bedacht, dieses Prinzip zu beachten. Leider stelle ich in Teilen unserer Gesellschaft jedoch ein anderes Vorgehen fest, dass nämlich eine Meinung eingenommen wird und dann im Netz nach Bestätigung dafür gesucht wird.
Verkürzung des Genesenenstatus
Das RKI hat auf Grundlage der aus seiner Sicht ausreichend belegten neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse für die bekannte Entscheidung gesorgt. Ich hatte dies mehrfach in meiner Fraktion angesprochen und kritisiert, dass es keine ausreichende fachliche Erklärung und keine Übergangsregelung gegeben hat. Darüber, ob sich die Entscheidung wissenschaftlich halten lässt, gehen die Einschätzungen auseinander. Siehe https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/immunschutz-genesen-geimpft-101.html Genesene können zwar besser vor einer neuen Infektion geschützt sein als Geimpfte, dafür kann aber der Schutz kürzer andauern als durch eine Impfung. So eine der Einschätzungen.
Vom Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit
Häufig wird dieses als Argument gegen eine Impfpflicht ins Feld geführt. So einfach ist das aber nicht. Denn dieses Grundrecht kann in einer Pandemie auch den Schutz durch den Staat vor vermeidbaren Infektionsrisiken umfassen. Ich beispielsweise möchte nicht Teil einer „Durchseuchung“ mit allen Risiken unkontrollierter Krankheitsausbreitungen werden, sondern mich schützen und geschützt werden. Einen vollständigen Schutz kann es dabei nicht geben, das ist klar. Da sind wir bei den Abwägungen, die leider allzu häufig von Kritiker*innen der Coronapolitik nicht vorgenommen werden. Kein Grundrecht steht über dem anderen. „Freiheit“ und „körperliche Unversehrtheit“ können gerade in einer Pandemie im Widerspruch zueinander stehen. Freiheit einschränken, um Gesundheit zu schützen? Auf freiheitsbeschränkende Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit verzichten, um Freiheit zu wahren? Hier immer das Augenmaß zu wahren ist eine wahre Kunst.
Seit 2 Jahren im Krisenmodus – Problem für politischen Selbstanspruch
Wir Grüne und auch ich persönlich stehen dafür, über Legislaturperioden hinaus zu denken. Davon zeugt beispielsweise die konzeptionelle Arbeit an unserer „Grünen Bahnstrategie“. Doch seit zwei Jahren befindet sich die Politik fast durchgehend im Krisenmodus: Corona/Maßnahmen/Impfen/Impfpflicht, Ukraine, steigende Energiepreise und einiges mehr zwingen uns, immer wieder „Feuerwehr“ zu spielen, kurzfristig umzudisponieren und sehr viel Zeit für zweifellos wichtige Aufgaben und oft auch kontroverse politische und gesellschaftliche Diskussionen, oftmals in von Aufregung geprägter Stimmung, zu investieren. Das gehört zu unseren Aufgaben. In jüngster Zeit droht darunter jedoch der eigene Arbeitsschwerpunkt (nicht nur bei mir) vernachlässigt zu werden. Der Spagat, sich aktueller und vordringlicher Themen zu widmen und oftmals auch mit hunderten von Bürgerinnen- und Bürgeranfragen umzugehen ist zweifelsfrei erheblich schwieriger geworden. Ich versuche diesem, wie meine Kolleginnen und Kollegen auch, mit besonders hohem Zeiteinsatz an allen Wochentagen, bestmöglich gerecht zu werden. Ich bitte jedoch um Verständnis, dass ich dennoch nicht allen Fragen, die auf mich einprasseln, nachgehen und diese beantworten kann. In Sachen Impfpflicht habe ich nach Monaten der Information, Gesprächen mit unterschiedlichen Fachmeinungen, Bürgerdialogen und Diskussionen die für mich wesentlichen Fragen in weiten Teilen beantworten können und darauf basierend eine eigene, persönliche Meinung bilden und eine Entscheidung treffen können, welchen der Gesetzentwürfe ich unterstütze.
„Ich wähle nicht mehr Grün“
Ich habe meine persönliche Entscheidung anhand der Faktenlage und der weit überwiegenden Einschätzungen aus der Wissenschaft getroffen und werde bis zur tatsächlichen Abstimmung über die Impfpflicht den weiteren Pandemieverlauf (Hospitalisierungsquote, Handlungsfähigkeit des Gesundheitswesens, weitere Mutationen, Ausblick auf die kommenden Monate etc.) beobachten, Einschätzungen aus der Wissenschaft einbeziehen und dabei auch und ganz besonders den Blick auf den kommenden Herbst und Winter richten. Drohungen, mich nicht mehr zu wählen, sind für mich kein Entscheidungsfaktor. Hierbei ist es für mich weniger erheblich, dass wir Grünen als einzige Partei weiter Mitglieder hinzugewinnen und gerade unter Grünen-Wähler*innen eine weit überdurchschnittliche Unterstützung für eine Impflicht vorhanden ist[7]. Denn Mehrheiten können sich irren und es geht bei der Abstimmung im Bundestag um eine verantwortungsvolle Entscheidung, die nicht von Stimmungen, sondern von der Faktenlage und der persönlichen Abwägung der Vor- und Nachteile abhängig gemacht werden sollte.
Nachtrag vom 15.03.2022:
Wir werden von Mails geflutet. Gestern, Montag, waren es alleine auf dem Hauptaccount meines Berliner Büros 219 Mails zur Impfpflicht. Es ist teilweise gruselig, was meine Mitarbeiterin und manchmal auch ich zu lesen bekommen. Sachlichkeit sieht anders aus. Vielfach wird uns Abgeordneten Panikmache rund um das Virus vorgeworfen, zugleich aber der millionenfache Tod von Geimpften prophezeit. Eine Impfpflicht wäre der direkte Weg in den Faschismus und in die Diktatur. Viele Leute schicken uns mehrere Mails am Tag und viele Mails enthalten vorformulierte Textelemente, die wir alle kennen. Kaum jemand ermöglicht eine Zuordnung zum Wahlkreis, was aber das Kriterium für die Beantwortung ist. Wenn ich in diesen Tagen meinen Maileingang checke, dann komme ich mir vor wie in einer Parallelwelt: Ein Großteil der Mails beziehen sich derzeit auf die Frage einer möglichen Impfpflicht. Im Bekanntenkreis, in Gesprächen auf der Straße oder in meinem Sprechstunden spielt dieses Thema keine oder so gut wie keine Rolle. Wenn ich direkt angesprochen werde, dann auch mit der Frage, wann denn die Impfpflicht endlich käme. In einer heute veröffentlichten weiteren Umfrage sprachen sich 61 Prozent der Bürger*innen für eine Impfpflicht ab 18 Jahren aus (Forsa-Instituts für das RTL/ntv-Trendbarometer). Dies zeigt einmal mehr, dass viele Mails oder laute Demos keinen Hinweis auf gesellschaftliche Mehrheiten geben müssen. Mehrheiten – in Gesellschaft und Parlamenten – können sich irren. Sie treffen aber Entscheidungen, die es in einer Demokratie zu respektieren gilt.
Diese Texte sind über einen Zeitraum von mehreren Wochen entstanden und wurden nahezu täglich überarbeitet und ergänzt. Mir war und ist wichtig, „Corona“ nicht auf einen oder einige wenige Aspekte einzuengen, da es sich in der Intensität, in der wir als Entscheidungsträger*innen damit auseinander setzen müssen, um eine komplexe Materie handelt.
[1] Polizeipräsident Bernhard Weber im Teckboten-Interview, 16.02.2022
[2] Nürtinger Zeitung vom 12.02.2022
[3] Teckbote v. 21.01.2022
[4] Eine Analyse von Forschenden der Uniklinik der RWTH Aachen bestätigt, dass die meisten erfassten Sterbefälle in Zusammenhang mit Corona in Deutschland auf das Virus selbst zurückzuführen sind. In 86 Prozent der obduzierten Fälle (über 1.000 Obduktionen) sei Covid-19 tatsächlich auch die zugrunde liegende Todesursache gewesen. Quelle: Fachmagazin „The Lancet“; StZ v. 23.02.2022
[5] Siehe auch Interview in der StZ am 19.02.2022
[6] Ich habe mich in einer solchen informiert.
[7] Siehe bspw. ZDF-Politbarometer vom 28.01.2022 (62% Zustimmung zu Impfpflicht, unter Grünen-Wähler*innen 74%)