10.03.2023
Von Kleinmaßnahmen bis Neubaustrecken
Welche Infrastruktur braucht die Bahn? Dies war das Thema meines jüngsten Bahngesprächs. Mit über 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmern war es zugleich die erfolgreichste Folge meiner Veranstaltungsreihe.
Meine Gäste waren Kerstin Haarmann, Bundesvorsitzende des Verkehrsclub Deutschland (VCD), Dr. Lukas Iffländer, stellvertretender Bundesvorsitzender des Fahrgastverbands PRO BAHN und Dr. Philipp Nagl, Vorstandsvorsitzender der DB Netz AG. Es ging um verhältnismäßig kurzfristig umsetzbare kleine Maßnahmen, die einen großen Nutzen im Schienennetz bringen, um wichtige Aus- und Neubauprojekte sowie die Vor- und Nachteile, die Neubauprojekte im Gegensatz zu Ausbauprojekten häufig mit sich bringen. Dabei haben wir drei der großen und strittigen großen Projekte vorgestellt und diskutiert. Unter der Berücksichtigung der ambitionierten Ziele, die sich die Ampel-Koalition gesteckt hat, stellt sich die Frage, wie wir das deutsche Schienennetz ausbauen müssen. Schließlich soll es zukünftig den Deutschlandtakt stemmen können und genug Kapazität für zunächst 25 Prozent Marktanteil im Schienengüterverkehr bieten.
Meine fachliche Einleitung ins Thema: Nach Jahrzehnten der einseitigen Bevorzugung der Straße und der Vernachlässigung der Schiene muss jetzt eine andere Politik einsetzen. Die Ampel-Koalition hat vereinbart, erheblich mehr in die Schiene als in die Straße investieren zu wollen. Wir wollen mehr sanieren, mehr ausbauen und mehr neu bauen. Wir wollen mehr in eine leistungsfähigere Schienen-Infrastruktur investieren, um einen besseren Personenverkehr gewährleisten zu können und mehr Güter auf die Schiene zu bringen. Dabei orientieren wir uns am integralen Taktfahrplan, ähnlich, wie er in der Schweiz erfolgreich etabliert wurde. Bei uns heißt das dann „Deutschlandtakt“. Dieser berücksichtigt den Nah‑, den Fern- und den Güterverkehr. Voraussetzung ist eine Infrastruktur, auf der sich der Fahrplan zum Nutzen von Fahrgästen und Güterkunden fahren lässt. Es wird also nicht mehr ziellos, sondern anhand eines Plans gebaut. Dieser ist aber nicht beliebig veränderbar. Der Deutschlandtakt ist vielmehr wie ein Puzzle: Es werden alle Teile in vorgesehener Größe und Form benötigt.
Ziel und Zweck der Veranstaltung war es, der Komplexität der Zusammenhänge zumindest ansatzweite gerecht zu werden und eine Übersicht über die Dimensionen zu gewinnen. Anhand der drei Großprojekte „Brennernordzulauf“, „Hannover – Bielefeld“ und „Hamburg – Hannover“ wurden die verkehrlichen Ziele erläutert, Abwägungskriterien und Konflikte bei den verschiedenen Varianten benannt sowie manche Vorurteile gegenüber Neubaustrecken („Ausbau geht schneller als Neubau“) aufgegriffen und ausgeräumt. Zwischen den Inputs und vor allem danach gab es ausgiebig Zeit für Fragen und Diskussionen. Auch im Chat wurde eifrig kommentiert.
1. Kleinmaßnahmen
Kerstin Haarmann (VCD) war Mitglied der „Beschleunigungskommission Schiene“, die sich im vergangenen Jahr auf Initiative der Bundesregierung Gedanken über schnell umsetzbare kleine und mittlere Infrastrukturmaßnahmen zur Erhöhung der Kapazität im Netz gemacht hatte und ebenso zur schnelleren Umsetzung auch größerer Investitionen. Haarmann führte Bahnsteigverlängerungen und Überholgleise als Beispiele auf. Meist würde es sich um Maßnahmen im Kostenumfang von bis zu 30 Millionen Euro handeln. Diese seien sehr effektiv, jedoch in der Vergangenheit oft vergessen worden. Dr. Philipp Nagl ergänzte, derartige Maßnahmen seien bisher oft nicht finanziert worden, da der volkswirtschaftliche Nutzen schwer nachweisbar sei. Inzwischen gebe es jedoch einen Planungsvorrat.
2. Sinn von größerem Aus- und Neubau
Die Frage an Lukas Iffländer (Pro Bahn) lautete: Wir haben jetzt gehört, was alles mit kleinen und mittleren Maßnahmen möglich ist. Nimmt man dann noch Elektrifizierungen mittels Oberleitungen und Digitalisierung hinzu, reicht das dann nicht aus für die benötigte Kapazität aus? Iffländer wies darauf hin, dass manche Relationen auch beschleunigt werden müssten. Ein Ziel sei, Relationen auf unter vier Stunden zu drücken, um Flugverkehre zu vermeiden. Zudem brauche es teilweise deutlich mehr Kapazitäten, so um die Takte im Nahverkehr verdichten zu können.
3. Ausbau vs. Neubau
An Philipp Nagl ging die Frage, ob sich Ausbau tatsächlich meist schneller realisieren lasse als Neubau, wie es immer wieder beispielsweise von Bürgerinitiativen behauptet werde. Nagl widersprach: Der Ausbau gehe meistens deutlich langsamer als der Neubau. Man könne nämlich meist nicht einfach weitere Gleise neben den Bestand legen. De facto müsse man auch den Bestand neu bauen, da beispielsweise Brücken nicht passen würden und man alles neu ordnen müsse. Ein Beispiel sei Karlsruhe – Basel: Man habe gemerkt, dass der Ausbau wegen der faktischen Probleme und der Proteste nicht gehe und habe dann auf eine Neubaustrecke entlang der Autobahn umschwenken müssen.
Aus dem Chat: “Man muss sich ja mal nur die Bauzeit von den 44 km Ausbau von Rastatt-Offenburg vor Augen führen: 17 Jahre !!!” Hinweis aus dem Büro Gastel: Diese Aussage haben wir geprüft. Ergebnis: Erster Baubeginn 12. Dezember 1987, Inbetriebnahme letzter Abschnitt am 12. Dezember 2004.
4. Drei größere Aus- und Neubauprojekte – Vorstellung und Bewertung
Vorabbemerkung Matthias Gastel: Die Variantenentscheidungen über die nachfolgend diskutierten Aus- und Neubauprojekte stehen noch aus. Darüber wird der Bundestag zu befinden haben. Wir werden als Grüne keine Vorfestlegungen treffen, sondern auf die jeweiligen Bewertungen warten. Entscheidendes Kriterium ist der Deutschlandtakt, auf den wir uns vielfach (Wahlprogramm, Koalitionsvertrag etc.) verständigt haben. Aus-/Neubaustrecken müssen benötigte Kapazitäten schaffen und attraktive Reisezeiten ermöglichen.
4.1 Brennernordzulauf
Einführend wies ich darauf hin, dass ich bereits einige Male vor Ort war und mit Bürger/innen, Bürgermeistern und BI gesprochen habe. Dabei wurden mir sehr unterschiedliche Sichtweisen vorgetragen. Wenn ich in Österreich unterwegs bin, wo bereits am Brenner-Basistunnel gebaut wird, werde ich immer gefragt, ob, wann und wie es in Deutschland endlich weiter geht.
Philipp Nagl erläuterte anhand der Karte den Stand des Verfahrens. Er wies darauf hin, dass es sich um ein letztes und wichtiges Bindeglied handle, nachdem in Österreich gebaut und in Italien geplant werde. Die neue Strecke brächte Entlastung für die Menschen, die an der Bestandstrasse leben. Natürlich sei mit neuer Infrastruktur aber immer auch eine Belastung verbunden, jedoch versuche man diese so gut wie möglich zu minimieren. Für den Nahverkehr sei ein „Quantensprung“ möglich, wenn Kapazitäten im Bestand frei würden.
Auf meine mehrmalige Frage ins Publikum, ob jemand Kritik oder Bedenken gegenüber den Planungen vortragen wolle, meldete sich niemand.
Lukas Iffländer wies darauf hin, Politik und Bahn müssten aus diesem Projekt lernen, um mehr Transparenz und Akzeptanz herzustellen. So habe die CSU gegen das Projekt opponiert, obwohl sie zeitgleich den Bundesverkehrsminister gestellt habe. Pro Bahn fehle eine Kurve von Salzburg kommend nach Innsbruck. Dr. Nagl bestätigte, dass die Verbindung fachlich sinnvoll sei. Deutschland könne diese aber nicht finanzieren, da der Nutzen Österreich zugutekomme. Man werde aber mit Österreich über eine Finanzierung sprechen.
4.2 Hannover-Bielefeld (6 Min.)
Dieses Projekt dürfte das sein, das mich nach Stuttgart 21 mit am meisten beschäftigt hat. Inzwischen haben sich dazu mehr als ein Dutzend Termine in Form von Videokonferenzen mit Menschen aus Niedersachsen und NRW angesammelt.
Auch hierzu führte Dr. Philipp Nagl wieder thematisch anhand einer Karte ein.
Aus dem Publikum wurde die Frage aufgeworfen, weshalb es die Vorgabe für eine Fahrzeit von 31 Minuten geben würde und nicht auch einige Minuten mehr möglich wären. Herr Dr. Nagl verwies darauf, dass dieser Wert nicht von der DB stammen würde, sondern vom Bund vorgegeben worden sei. Die Fahrzeit sei aber auch nicht beliebig, da strategische Ziele (Deutschlandtakt mit gesicherten Anschlüssen) zugrunde liegen würden.
Kerstin Haarmann ergänzte, dass Fahrzeitgewinne wichtig seien, wenig mehr als 31 Minuten aber auch funktionieren würden. Da die Pläne Widerstände auslösen, forderte sie eine bessere Kommunikation dessen, was ein Ausbau im Bestand verkehrlich und für bestehende Siedlungsstrukturen bedeuten würde. Zudem hielt sie eine Reduzierung des Mindestabstands zu Autobahnen für richtig, um mit geringeren Landschaftseingriffen Verkehrsachsen bündeln zu können. Mit Neubaustrecken müssten regionale Vorteile geschaffen werden.
Hier konnte ich gut ansetzen: Mir ist wichtig, hier nochmal deutlich zu machen, dass auch Neubaustrecken in weiten Teilen gebündelt mit vorhandenen Verkehrsachsen konzipiert werden können, um Eingriffe in Landschaftsbilder zu verringern. Zudem können unter Umständen neue Bahnhalte realisiert werden. An der Neubaustrecke Wendlingen – Ulm ist dies gelungen: In Merklingen auf der Schwäbischen Alb entstand ein neuer Regionalhalt, der dieser ländlichen Region enorme Mehrwerte verschafft hat.
4.3 Hamburg – Hannover (6 Min.)
Dr. Philipp Nagl zeigte anhand der Karte, dass die derzeitige Strecke sehr umwegig sei. Jeder Zug müsse eine um 30 Kilometer längere Strecke fahren, was unnötig Energie verbrauchen würde. Zugleich sei die Strecke bei der Auslastung am Anschlag. Für einen besseren Nahverkehr und den Schienengüterverkehr würden erforderliche Kapazitäten fehlen. Es handle sich um einen echten Engpass.
Aus dem Publikum kam von einem Fridays-for-Future-Vertreter der Wunsch an die Grünen nach „deutlich härterer Kante“ zugunsten einer Neubaustrecke. Ein anderer Teilnehmer gab sich als Magdeburger zu erkennen und wies darauf hin, dass auch er von der bisher schlechten Betriebsqualität betroffen sei und von einer Neubaustrecke profitieren würde. Wiederum ein anderer Teilnehmer fragte, weshalb ständig eine andere Einschätzung bezüglich geeigneter Lösung vorliegen würde und Alpha E kein Thema mehr sei. Darauf ging Dr. Lukas Iffländer ein: Das Hin und Her sei traurig. Schaue man sich jedoch einen möglichen Ausbau an, dann würde man schnell sehen, was dafür alles an Gebäuden abgerissen werden müsste. Wichtig bei einem Neubau sei, regionalen Nutzen zu stiften. Dabei dränge sich Soltau auf.
5. Beteiligungsverfahren
Dr. Philipp Nagl gestand ein, dass seitens der Deutschen Bahn nicht immer alle Beteiligungsverfahren gut gelaufen seien. Es gebe jedoch auch positive Beispiele, so Frankfurt – Mannheim und Frankfurt – Fulda. Wichtig sei, dass es von Anfang an einen Grundkonsens geben würde. Ziele von baulichen Maßnahmen müssten klar sein. Die DB Netz habe ein neues Vorstandsmitglied, dessen Hauptaufgabe eine gute Kommunikation und Beteiligung sei.
Dazu zwei Kommentare aus dem Chat:
„Bei der NBS Ffm – Fulda haben sich alle Seiten aufeinander zubewegt, das ist richtig. Bei Ffm – MA nicht. DB Netz hat seine zu Beginn des Verfahrens(!) festgelegte Referenztrasse nur mit unwesentlichen Änderungen aus dem Beteiligungsforum festgelegt. Bei den örtlichen Verbänden, die den Neubau an sich alle befürworten, gibt es eine sehr große Unzufriedenheit deswegen!“
Darauf ein Konter im Chat:
„Bei KA – MA geht die DB Netz sehr transparent weit vor dem Raumordnungsverfahren so vor, dass alle regionalen und lokalen Stakeholder jeden Vertiefungsschritt zur Trassenfindung mitvollziehen können.“
6. Fragen und Diskussion
Im Chat und per Zuschaltung gab es sehr viele Fragen, die auf unterschiedlichen Wegen, teilweise auch im Nachgang, beantwortet wurden.
Beiträge von Matthias Gastel zu weiteren in Vorplanung befindlichen Aus- und Neubaustrecken:
Mannheim – Karlsruhe und Mannheim – Frankfurt: https://www.matthias-gastel.de/von-mannheim-auf-neuen-gleisen-nach-frankfurt-und-karlsruhe/
Augsburg – Ulm: https://www.matthias-gastel.de/aus-neubaustrecke-augsburg-ulm/
Betuwe-Linie bei Emmerich: https://www.matthias-gastel.de/einschaetzung-zur-abs-nbs-oberhausen-emmerich-planfeststellungsabschnitt-elten/