Wie steht es um die Zukunft der Parteiendemokratie?

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21.11.2018

Im Gespräch mit dem Parteienforscher Prof. Jun

Man­che spre­chen ange­sichts der letz­ten Wahl­er­geb­nis­se von Poli­tik­ver­dros­sen­heit, ande­re von Par­tei­en­ver­dros­sen­heit. Was bedeu­tet das für die Par­tei­en­de­mo­kra­tie? Wel­che Per­spek­ti­ven haben die ein­zel­nen Par­tei­en und wie ist ihre der­zei­ti­ge Lage? Die­sen Fra­gen bin ich – nach der Bay­ern- und vor der Hes­sen­wahl – im Stadt­bü­ro der Nür­tin­ger Zei­tung im Gespräch mit dem Par­tei­en­for­scher Pro­fes­sor Dr. Uwe Jun von der Uni­ver­si­tät Trier nach­ge­gan­gen.

Zunächst habe ich ihn gefragt: „Wes­halb ist die Wahl­be­tei­li­gung seit den 1950er-Jah­ren von deut­lich über 85 Pro­zent auf zeit­wei­se knapp über 70 Pro­zent gesun­ken?“ Pro­fes­sor Jun erklärt das damit, dass es vie­le Men­schen gibt, die nie im ver­ein­ten Deutsch­land ange­kom­men sind und sich auch nicht für Poli­tik inter­es­sie­ren. Das Pflicht­ge­fühl „wäh­len gehen zu müs­sen“ hat stark abge­nom­men. Da die AfD auch Nicht­wäh­ler rekru­tiert, ist die Wahl­be­tei­li­gung zuletzt wie­der etwas gestie­gen.

Mit dem Funk­tio­nie­ren der Demo­kra­tie an sich, sind laut ZDF-Polit­ba­ro­me­ter im Wes­ten nur 67 Pro­zent, im Osten gar nur 50 Pro­zent zufrie­den. Laut Jun haben vor allem im Osten die Men­schen das sub­jek­ti­ve Emp­fin­den – auch durch das demo­kra­ti­sche Sys­tem – benach­tei­ligt zu sein. Nach Juns Ansicht hält aber immer noch der größ­te Teil der Deut­schen die Demo­kra­tie für die bes­te Staats­form, aller­dings kri­ti­sie­ren vie­le die Umset­zung. Stark ver­brei­tet ist die Angst, den erar­bei­te­ten Wohl­stand zu ver­lie­ren. Die Zufrie­den­heit der Bür­ger zu stei­gern ist gar nicht so ein­fach: die einen wol­len mehr betei­ligt wer­den, die ande­ren wol­len „mög­lichst geräusch­los regiert wer­den“. Ande­re sind frus­triert, da sie das Gefühl haben, dass ihr Enga­ge­ment nichts gebracht hat.

Die star­ken Stimm­ge­win­ne und ‑ver­lus­te der Par­tei­en lie­gen in ers­ter Linie dar­an, dass es inzwi­schen weni­ger Stamm- als Wech­sel­wäh­ler gibt. Frü­her gab es eine stär­ke­re Wäh­ler­bin­dung etwa der Gewerk­schafts­mit­glie­der an die SPD oder der Kirch­gän­ger an die CDU. Die­ser Ein­fluss hat sehr abge­nom­men. „Wäh­ler ent­schei­den heu­te viel öfter aus einer situa­ti­ven Stim­mung her­aus, wen sie wäh­len“, erläu­tert Pro­fes­sor Jun. Da fra­ge ich mich schon, ob alles was wäh­rend einer Legis­la­tur­pe­ri­ode geleis­tet wur­de irrele­vant ist und es nur noch auf die Per­for­mance in den Wochen vor den Wah­len ankommt.

Wie sieht es bei den ein­zel­nen Par­tei­en aus?

Bei der CDU wun­de­re ich mich, wes­halb die Leu­te der­art unzu­frie­den mit den Uni­ons­par­tei­en sind, obwohl sie mit der Kanz­le­rin die Regie­rung anfüh­ren. Ange­la Mer­kel hat jah­re­lang Posi­tio­nen ande­rer Par­tei­en über­nom­men, etwa den Atom­aus­stieg oder die Ehe für alle. Mit die­sem Kurs Rich­tung poli­ti­scher Mit­te, nicht zuletzt bei der Flücht­lings­po­li­tik, sind aber nicht alle CDU-Anhän­ger ein­ver­stan­den. Die ermü­den­den Kon­tro­ver­sen in der gro­ßen Koali­ti­on, vor allem ver­ur­sacht durch Horst See­ho­fer, haben dem Anse­hen der Uni­ons­par­tei­en all­ge­mein sehr gescha­det.
Eben­so scha­det die­se offen­sicht­lich unwil­li­ge Koali­ti­on der SPD. His­to­risch ver­dient, ver­liert die SPD seit dem Ende der Rot-Grü­nen-Koali­ti­on 2005 kon­ti­nu­ier­lich an Zustim­mung. Die Sozi­al­de­mo­kra­ten befin­den sich aller­dings in ganz Euro­pa in der Kri­se. Für die Men­schen mit mitt­le­rem Ein­kom­men hat die SPD kein Ange­bot. Gering­ver­die­ner sind schwer zu mobi­li­sie­ren. Die Par­tei hat mit der Ein­füh­rung der Agen­da 2010 und dem anschlie­ßen­den Distan­zie­ren davon, an Glaub­wür­dig­keit ver­lo­ren. Ande­re The­men wie Euro­pa blei­ben bei der SPD Neben­sa­che.
Ganz anders stellt sich dage­gen die Situa­ti­on bei den Grü­nen dar. Wir pro­fi­tie­ren zwar vom Ver­druss über die gro­ße Koali­ti­on und dem Zulauf von der CDU und der SPD, aber auch davon, dass wir kon­se­quent und klar Stel­lung bezie­hen etwa zum Kli­ma­schutz, zur Migra­ti­on und auch prag­ma­tisch an Wirt­schafts­the­men her­an­ge­hen. Dazu kommt, dass unse­re neue Par­tei­spit­ze bei den Men­schen gut ankommt. Die Grü­nen sind die am wenigs­ten popu­lis­ti­sche Par­tei. Pro­fes­sor Jun sieht Gefah­ren für den der­zei­ti­gen Höhen­flug, wenn The­men bedeut­sam wer­den, bei denen den Grü­nen weni­ger Kom­pe­tenz zuge­traut wird. Das kön­nen eine erneu­te Finanz­kri­se sowie Wirt­schafts- und Sozi­al­the­men sein.
Ein unge­wohnt kon­tro­ver­ses The­ma, das die Par­tei­en­land­schaft geprägt hat, ist das The­ma Zuwan­de­rung und Flücht­lin­ge. Aus der Sicht von Jun konn­ten Kri­ti­ker der Flücht­lings­po­li­tik von Ange­la Mer­kel 2017 eigent­lich nur AfD wäh­len. Damit bin­det die­se Par­tei ihre Wäh­ler an sich und hat sich damit auch eta­bliert. Aller­dings sieht Jun bei der AfD am wenigs­ten Luft nach oben. Rund 70 Pro­zent der Wäh­ler wür­den die­se Par­tei auf kei­nen Fall wäh­len. Bei ande­ren Par­tei­en sind das deut­lich weni­ger, ins­be­son­de­re bei der SPD: Nur 23 Pro­zent kön­nen sich die Wahl der Sozi­al­de­mo­ka­ten unter kei­nen Umstän­de vor­stel­len. Jun fin­det es erstaun­lich, dass die AfD ohne über­zeu­gen­de Füh­rungs­per­sön­lich­keit aus­kommt.
Dage­gen habe ich den Ein­druck, dass sich die FDP der­zeit schwer damit tut wahr­ge­nom­men zu wer­den. Sie liegt in Umfra­gen deut­lich unter dem Bun­des­tags­wahl­er­geb­nis und pro­fi­tiert offen­bar nicht von der schwa­chen CDU. Jun erklärt das auch damit, dass die FDP die kleins­te Stamm­wäh­ler­schaft mit 2,5 bis 3 Pro­zent hat.
Die Lin­ke erzielt in Umfra­gen etwa ihr Wahl­er­geb­nis. Scha­det oder nutzt ihr die Initia­ti­ve „Auf­ste­hen“ von Sahra Wagen­knecht? Hier ist sich Pro­fes­sor Jun sicher: „Das sind fast schon natio­na­lis­ti­sche Töne. Das wird kei­ne erfolg­rei­che Bewe­gung. Damit wur­de ein Spalt­pilz in die Lin­ke gelegt.“

Aus­blick

Zum Schluss habe ich Pro­fes­sor Jun um „den Blick in die Glas­ku­gel“ gebe­ten. Für die zum dama­li­gen Zeit­punkt bevor­ste­hen­de Hes­sen­wahl pro­gnos­ti­zier­te er, dass sich Stim­mun­gen nicht so schnell ändern. Er glaub­te außer­dem, dass egal wie das Wahl­er­geb­nis aus­fällt, Ange­la Mer­kel als Kanz­le­rin nicht zurück­tritt. Damit hat er Recht behal­ten. Jun glaubt, dass Mer­kel den Zeit­punkt ihres Abgangs selbst bestimmt und dafür eine ruhi­ge­re Zeit abwar­tet. Soll­te die SPD die gro­ße Koali­ti­on ver­las­sen, stün­de sie vor der Zer­reiß­pro­be. Zu Andrea Nah­les sieht Jun der­zeit kei­ne per­so­nel­le Alter­na­ti­ve. Die Land­tags­wah­len 2019 im Osten, wer­den wohl zu schwie­ri­gen Regie­rungs­bil­dun­gen füh­ren. Er rät allen Par­tei­en zu ratio­na­lem Han­deln. Irra­tio­na­les Han­deln, das auch Neu­wah­len bedeu­ten wür­de, „wäre gräss­lich“!