Gespräch über Armut
Die erste Tafel wurde 1993 eröffnet. Mittlerweile gibt es bundesweit fast 1.000 Tafeln mit etwa 2.000 Ausgabestellen. Eine davon, nämlich die in Filderstadt, habe ich besucht. Sie war die dritte Tafel bundesweit, als sie im Jahr 1995 eröffnet wurde.
Kurz vor der Bundestagswahl 2013 hatte ich in dieser Tafel, die ich bereits von zahlreichen Besuchen kannte, ein eintägiges Praktikum absolviert. Ich war dabei, als mit einem Transporter die Spenden in Supermärkten und Bäckereien eingesammelt wurde, habe die Waren sortiert, in die Regale eingeräumt und an der Ausgabe mitgewirkt. Nun habe ich wieder bei der Tafel, die eine von drei Tafelläden des Kreisdiakonieverbandes Esslingen ist und täglich von 160 bis 180 Kundinnen und Kunden besucht wird, vorbeigeschaut und mich mit Tafelleiterin Tanja Herbrick unterhalten.
2015 und noch mehr 2016 kamen zunehmend Flüchtlinge, um in der Tafel einzukaufen. Konflikte zwischen „alten und neuen“ Kunden blieben nicht aus, als plötzlich bis zu 200 Menschen binnen der vierstündigen Öffnungszeiten am Tag in den kleinen Laden strömten. Verschärft wurde der Konflikt dadurch, dass seit Jahren die Sachspenden zurückgehen. Die Discounter gehen beispielsweise bei der Kühlware dazu über, bald ablaufende Produkte selber zum ermäßigten Preis zu verkaufen. Auch bei Frischwaren gibt es immer wieder Engpässe. Dass der Einzelhandel sensibler mit ablaufenden Lebensmitteln umgeht ist zu begrüßen. Für die Tafeln stellt es ein Problem dar. Die Anzahl derer, die täglich in den Tafelladen kommen, hat sich inzwischen wieder etwas verringert. Was an organisatorischen Konsequenzen aufrechterhalten bleibt ist die Limitierung der Anzahl von Personen, die gleichzeitig im Laden sein dürfen, um Drängeleien zu vermeiden und es ist nur noch ein Einkauf pro Familie und Tag möglich. In Echterdingen und Nellingen, wo es noch enger als in Bernhausen zugeht, gibt es ein Nummernsystem, bei dem die Reihenfolgen, nach der die kleinen Verkaufsräume betreten werden dürfen, ausgelost werden. Eine Zugangsregelung nach Nationalitäten, wie sie bei der Essener Tafel einige Wochen lang praktiziert wurde und heftige öffentliche Debatten auslöste, „geht gar nicht“, ist man sich beim Kreisdiakonieverband Esslingen einig.
Wer sind die Menschen, die in der Tafel einkaufen? Voraussetzung für den Zugang zur Tafel ist der Bezug von Arbeitslosengeld II („Hartz IV“), Grundsicherung oder Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Auch Geringverdiener, die knapp über dem ALG II-Regelsatz liegen, erhalten den Ausweis. Insgesamt ist die Kundschaft älter geworden, wie Frau Herbrick erläuterte. Es gibt Kundinnen und Kunden, die seit Bestehen der Tafel – also über 20 Jahre – dort einkaufen. Auch dies kann als Hinweis darauf verstanden werden, dass die Abhängigkeit von Sozialleistungen für zu viele Menschen mehr als eine vorübergehende Notwendigkeit ist und wirft Fragen in Sachen Arbeitsmarktintegration auf.
Von der Tafel in Esslingen ist zu hören, dass es immer wieder zu Ärger mit Kunden kommt, die mehr als die „handelsübliche Menge“ eines Artikels kaufen wollen. Dann käme es zu wütenden Beschimpfungen. Dass in Bernhausen nur drei bis vier vierwöchige Hausverbote gegen Drängler verhängt werden mussten zeigt, dass es sich um Ausnahmen handelt und es insgesamt gesittet zugeht.
Natürlich haben wir auch über Sinn und Unsinn von Tafeln diskutiert. Ist die Existenz der Tafeln eine Schande? „Ja, klar. Weil zu viele Menschen zwingend darauf angewiesen sind“, lautet die Antwort, die ich im Gespräch zu hören bekomme. Andererseits: „Mit der sinnvollen Verwertung noch guter Lebensmittel gibt es eine zweite Perspektive, mit der die Tafelläden gesehen werden können.“
Ich bin der Meinung, dass es auch bei wirksamer Armutsbekämpfung (die dringend notwendig ist!) immer Menschen in relativer Armut geben wird, die froh sind, wenn sie einen Teil ihres Bedarfs zu besonders günstigen Preisen decken können. Zugleich wäre es auch schade, wenn noch gute, aber nicht mehr zum vollen Preis veräußerliche Lebensmittel vernichtet werden müssten.
Weitere Diskussionspunkte waren die Angemessenheit von Regelsätzen, bedarfsabhängige Einzelleistungen für Menschen in ALG II-Bezug und ein Sozialticket für den öffentlichen Nahverkehr.
In unserer Bundestagsfraktion und der grünen Partei kommt die Diskussion um die Armutsbekämpfung immer mehr in Fahrt. Eine zentrale Frage ist dabei die, wie es mit den Hartz-Reformen, mit denen Antworten auf die Herausforderungen der 1990er-Jahre gesucht wurden, weiter gehen soll. Während es damals eine hohe Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und die Trägheit der Arbeitsverwaltung zu überwinden galt, geht es heute vor allem um passgenauere Hilfen für Langzeitarbeitslose, die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit sowie die Vermeidung von Armut von Alleinerziehenden und im Alter. Die Digitalisierung bringt darüber hinaus gravierende Veränderungen, auf die sich die Arbeitsmarktpolitik ebenfalls einstellen muss.