Zürich – Modell für städtische Verkehrswende

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Mit der Tram unter­wegs in Zürich.

01.08.2018

Besuch in der Stadt mit Kon­zept und lan­gem Atem

Zürich hat vor lan­ger Zeit und mit Zustim­mung der Bevöl­ke­rung ange­fan­gen, kon­se­quent auf den Aus­bau öffent­li­cher Ver­kehrs­mit­tel und eine Zurück­drän­gung des Autos zu set­zen. Der Erfolg – Zürich gilt als eine der Städ­te mit höchs­ter Lebens­qua­li­tät – bestä­tigt die­sen Kurs.

Bevöl­ke­rungs­wachs­tum (aktu­ell 420.000 Einwohner*innen), stei­gen­de Beschäf­tig­ten­zah­len in der Stadt wie in der Regi­on und höhe­re Ansprü­che an die Mobi­li­tät kenn­zeich­nen nicht nur Zürich, son­dern auch deut­sche Städ­te wie Stutt­gart. Inso­fern sind eini­ge Ent­wick­lun­gen in Zürich von gro­ßem Inter­es­se und – den poli­ti­schen Wil­le vor­aus­ge­setzt – teil­wei­se über­trag­bar auch auf ande­re Städ­te und Regio­nen. Daher haben mein Land­tags­kol­le­ge Her­mi­no Kat­zen­stein und ich uns in Zürich umge­schaut und mit Ver­ant­wort­li­chen für Stadt‑, Nah­ver­kehrs- und Rad­ver­kehrs­pla­nung gespro­chen.

In der Stadt hat man sich schon vor zehn und mehr Jah­ren ehr­gei­zi­ge Zie­le für deut­lich höhe­re Ver­kehrs­an­tei­le des öffent­li­chen Nah­ver­kehrs und trotz wach­sen­der Ein­woh­ner­zah­len für eine Nicht-Erhö­hung der Kapa­zi­tä­ten für den moto­ri­sier­ten Indi­vi­du­al­ver­kehr (MIV) gesetzt. Dazu heißt es im jüngs­ten Bericht der Stadt: „Stra­ßen­park­plät­ze wer­den ten­den­zi­ell in öffent­lich zugäng­li­che Park­häu­ser und Par­kie­rungs­an­la­gen ver­la­gert. (…) Weni­ger Park­plät­ze bedeu­ten weni­ger MIV und weni­ger Flä­che im pri­va­ten und öffent­li­chen Raum, die für par­kier­te Fahr­zeu­ge benö­tigt wird. Somit bleibt mehr Platz für attrak­ti­ve Nut­zun­gen.“

Da die Stadt alle fünf Jah­re eine Bevöl­ke­rungs­be­fra­gung durch­führt (zuletzt im Jahr 2015), ist den Ver­ant­wort­li­chen stets klar, wel­che Ver­än­de­run­gen erreicht wur­den und wie die umge­setz­ten Maß­nah­men und deren Wir­kun­gen in der Öffent­lich­keit ankom­men.

Öffent­li­cher Nah­ver­kehr

Wir spra­chen mit dem Direk­tor der Ver­kehrs­be­trie­be Zürich (VBZ, zu hun­dert Pro­zent ein städ­ti­sches Unter­neh­men) und sei­nem Bereichs­lei­ter Markt. Bei­de nah­men sich sehr viel Zeit für uns. Eben­so wur­den wir von zwei lei­ten­den Mit­ar­bei­tern des Tief­bau­am­tes infor­miert.

Die Tram und zu einem gro­ßen Anteil auch die Bus­se sind auf eige­nen Tras­sen unter­wegs. Die Tram-Lini­en fah­ren tags­über im 7,5‑Minuten-Takt. In zen­tra­len Lagen wie am Haupt­bahn­hof ergibt sich dar­aus alle 90 Sekun­den ein Ange­bot. An den Ampeln wer­den sie gegen­über dem MIV deut­lich bevor­zugt. Dadurch konn­ten Fahrt­zei­ten ver­kürzt und Betriebs­kos­ten (ins­be­son­de­re Per­so­nal­kos­ten) gesenkt wer­den. Der Kos­ten­de­ckungs­grad der öffent­li­chen Ver­kehrs­mit­tel im Stadt­ge­biet wird mit 78 Pro­zent über­ra­gend hoch ange­ge­ben. Fahr­geld- und Wer­be­ein­nah­men redu­zie­ren den Zuschuss­be­darf also auf nur noch 22 Pro­zent. Als Erfolgs­fak­to­ren gel­ten: Schweiz­weit ein Tarif­sys­tem, ein Ticket, ein gemein­sa­mes Mar­ke­ting, brei­te gesell­schaft­li­che Unter­stüt­zung und Iden­ti­fi­ka­ti­on durch Volks­ab­stim­mun­gen, ein dich­tes Netz mit hohem Erschlie­ßungs­grad, die Stär­kung der unter­neh­me­ri­schen Ver­ant­wor­tung der 160 Ver­kehrs­un­ter­neh­men und das Bestell­prin­zip (Debat­ten über eine Zen­tral­steue­rung wer­den für gefähr­lich gehal­ten).

Die ein­ge­setz­ten Trams sind lei­der nicht bar­rie­re­frei. Mit der nächs­ten Gene­ra­ti­on an Fahr­zeu­gen wer­den Nie­der­flur­wa­gen ange­schafft, die an den meist schon vor­han­de­nen 30 Zen­ti­me­ter hohen Kan­ten eben­erdi­ge Ein- und Aus­stie­ge ermög­li­chen

Der ÖV-Anteil stieg zwi­schen 2000 und 2015 von 30 auf sehr hohe 41 Pro­zent.

Die Pünkt­lich­keit konn­te gestei­gert wer­den. Im Jahr 2016 waren 87 Pro­zent der Bus­se, S‑Bahnen und Trams abso­lut pünkt­lich, wei­te­re 11 Pro­zent waren maxi­mal fünf Minu­ten ver­spä­tet. Mehr als fünf Minu­ten waren nur zwei Pro­zent der Fahr­zeu­ge unter­wegs.

Auf einer Ska­la von sechs („sehr zufrie­den“) bis eins („über­haupt nicht zufrie­den“) gab die Bevöl­ke­rung 5,4 Punk­te. Genau die Hälf­te war sehr zufrie­den, wei­te­re 41 Pro­zent zeig­ten sich zufrie­den.

Fuß­ver­kehr

Der Anteil des Fuß­ver­kehrs liegt in Zürich bei kon­stant 26 Pro­zent.

30 Pro­zent der Bevöl­ke­rung äußer­te sich in einer Befra­gung sehr posi­tiv mit der Ver­kehrs­qua­li­tät für den Fuß­ver­kehr, wei­te­re fast 60 Pro­zent zeig­ten sich zufrie­den.

Rad­ver­kehr

Wir spra­chen mit dem Grü­nen-Gemein­de­rat und Vor­sit­zen­den von Pro Velo im Kan­ton Zürich, Res Mar­ti. Aus sei­ner Sicht ver­läuft die Ent­wick­lung der Infra­struk­tu­ren lang­sam, aber posi­tiv. Gemisch­te Flä­chen für Fuß- und Rad­ver­kehr wer­den auf­ge­ge­ben, statt­des­sen kom­men immer mehr durch Mar­kie­run­gen gekenn­zeich­ne­te Schutz­strei­fen auf den Fahr­bah­nen. Die Umset­zung des Mas­ter­plans Velo ist schwie­rig, da der Weg­fall von Stell­plät­zen im Kon­kre­ten auch in Zürich auf Wider­stän­de stößt. Der stark stei­gen­de Anteil der öffent­li­chen Ver­kehrs­mit­tel „ist nicht dien­lich für Rad­ver­kehrs-Stei­ge­run­gen“.

In Zürich gibt es drei Anbie­ter von Fahr­rad-Ver­leih­sys­te­men, von denen zwei (einer ist ein Free­floa­ter) Fahr­rä­der in guter Qua­li­tät anbie­ten. Das städ­ti­sche Aus­schrei­bungs­an­ge­bot ist sta­ti­ons­ba­siert.

Am Bahn­hof wur­de eine gro­ße bewach­te Fahr­rad-Tief­ga­ra­ge errich­tet, die kos­ten­pflich­tig genutzt wer­den kann und eine gute Aus­las­tung auf­weist.

Ein gro­ßes The­ma ist der anhal­ten­de Nega­tiv­trend bei den ver­un­fall­ten Rad­fah­ren­den. Ihre Anzahl stieg in den letz­ten zehn Jah­ren um etwa 80 Pro­zent. Eine Ursa­che sind die vie­len Stra­ßen­bahn­schie­nen, die häu­fig zu Stür­zen füh­ren. Wei­te­re Fak­to­ren könn­ten die Zunah­me des Rad­ver­kehrs ins­ge­samt und der Pedelecs im Spe­zi­el­len (Risi­ko für Unge­üb­te) sowie die unzu­rei­chend aus­ge­bau­te Rad­ver­kehrs­in­fra­struk­tur sein. Eine genaue­re Ana­ly­se läuft, wur­de uns mit­ge­teilt.

Hand­lungs­be­darf zeig­te auch die Zufrie­den­heits­ab­fra­ge der Bevöl­ke­rung. Kei­ne 30 Pro­zent der befrag­ten Bür­ge­rin­nen und Bür­ger waren mit der Rad­ver­kehrs­si­tua­ti­on in ihrer Stadt zufrie­den.

Der Rad­ver­kehrs­an­teil in Zürich stieg im Zeit­raum von 2000 bis 2015 von vier auf acht Pro­zent. Wegen der hohen Wit­te­rungs­ab­hän­gig­keit sind Rad­ver­kehrs­an­tei­le aber stets mit Vor­sicht zu genie­ßen, wor­auf auch der Vor­sit­zen­de von Pro Velo aus­drück­lich hin­wies.

Auto­ver­kehr

Wir haben einen gro­ßen Neu­bau ange­schaut, mit Laden­ge­schäf­ten und einem Kino im Erd­ge­schoss und ver­mut­lich dut­zen­den von Woh­nun­gen und Büros dar­über. Für den gesam­ten Kom­plex ste­hen zwei (!) Stell­plät­ze zur Ver­fü­gung. Nur einer davon war belegt.

Als fast schon sen­sa­tio­nell kann gel­ten, dass der Anteil des MIV zwi­schen 2000 und 2015 von 40 auf nur noch 25 Pro­zent gesun­ken ist. Vie­le frü­he­re Auto­fah­ren­de sind offen­sicht­lich auf öffent­li­che Ver­kehrs­mit­tel umge­stie­gen.

Für mich neu war, dass es in der Schweiz kein wie in Deutsch­land noch immer ver­brei­te­tes Dienstwagen(un)wesen gibt. Auch für Füh­rungs­kräf­te in Staat und Unter­neh­men ist die Nut­zung der Bahn sehr weit ver­brei­tet.

Nega­ti­ve Aus­wir­kun­gen des rück­läu­fi­gen Auto­ver­kehrs auf den Ein­zel­han­del in der Stadt konn­ten nicht fest­ge­stellt wer­den – wenn­gleich sich in Zürich Ein­zel­han­dels­struk­tu­ren wie auch anders­wo ver­än­dert haben.

Fazit

In Zürich wer­den mitt­ler­wei­le drei Vier­tel aller Wege mit dem ÖV, zu Fuß oder mit dem Fahr­rad zurück­ge­legt. Nichts wird dem Zufall über­las­sen. Es gibt Kon­zep­te, die kon­se­quent ver­folgt wer­den. Die Devi­se „wir müs­sen weg von der nach­fra­ge- und hin zur ange­bots­ori­en­tier­ten Ver­kehrs­pla­nung, denn wir müs­sen wis­sen, von was wir mehr und von was wir weni­ger wol­len“ erweist sich als erfolg­reich. Der Aus­bau der öffent­li­chen Ver­kehrs­mit­tel und die schritt­wei­se Zurück­drän­gung des Autos wer­den von der Bevöl­ke­rung unter­stützt. Sie merkt offen­bar, dass es sich in einer sol­chen Stadt gut leben lässt.